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Tod von Bloggerin Marie Sophie Hingst
Die große Verantwortung der Journalisten

Eine Bloggerin wird vom "Spiegel" als Fälscherin enttarnt - und wenige Wochen später tot in ihrer Wohnung gefunden. Weil sie auf ihn psychisch labil wirkte, hatte sich Journalist Derek Scally kurz vorher bewusst gegen einen Artikel entschieden, wie er im Dlf erzählt. Journalistikprofessor Klaus Meier sieht aber auch ein berechtigtes öffentliches Interesse an der Berichterstattung.

Von Annika Schneider | 29.07.2019
    Bloggerin Marie Sophie Hingst.
    Die Bloggerin Marie Sophie Hingst wurde am 17. Juli tot in ihrer Wohnung gefunden (Die Goldenen Blogger, H. Andree)
    Zwei lange Artikel sind über die preisgekrönte Bloggerin Marie Sophie Hingst zuletzt erschienen - und sie werfen medienethische Fragen auf. Der erste Text erschien am 31. Mai bei "Spiegel online": Darin wurde die Historikerin als Fälscherin entlarvt, die sich unter anderen eine Biographie mit jüdischen Holocaust-Opfern als Vorfahren erdichtet hat. Als am Wochenende nun der zweite Text über sie erschien, diesmal in der "Irish Times", war Hingst nicht mehr am Leben. Der Autor beschreibt eine psychisch labile Frau, die dem "Spiegel" vorwarf, ihr Leben auf den Kopf gestellt zu haben – bevor sie am 17. Juli tot in ihrer Wohnung gefunden wurde.
    Laut "Irish Times" hat die Polizei keine Hinweise auf ein Fremdeinwirken gefunden. "This is about a publishing house hanging someone out on a fence to dry." So zitiert die "Irish Times" die preisgekrönte Bloggerin. Sie wirft dem "Spiegel" also vor, sie im Stich gelassen zu haben. Gab es eine Verbindung zwischen dem Enthüllungsartikel und der möglichen Selbsttötung der Protagonistin? Hätte das Magazin anders über den Fall berichten können? Und an welche Regeln müssen sich Journalisten halten, die auf psychisch labile Interviewpartner treffen?
    Frei erfundene Holocaust-Opfer
    Der "Spiegel"-Artikel deckte auf, dass Marie Sophie Hingst sich eine jüdische Familiengeschichte konstruiert hatte, die nicht nur in ihrem Blog "Read on my dear, read on" immer wieder Thema war, sondern über die sie auch bei öffentlichen Veranstaltungen sprach. Die Fälschungen reichten bis hin zu frei erfundenen Angaben, die sie bei der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem einreichte – und das als studierte Historikerin. Auch in der "Zeit" und auf Deutschlandfunk Nova erzählte Hingst erfundene Geschichten.
    Mit der Entlarvung der Betrügerin erfüllte der "Spiegel" also eine journalistische Kernaufgabe, indem er behauptete Tatsachen kritisch hinterfragte und Ungereimtheiten nachging. "Wer Holocaust-Opfer erfindet, verhöhnt im Nachhinein all jene, die wirklich von den Nazis gequält und umgebracht wurden", heißt es in dem Text. Noch 2017 war Hingst zur "Bloggerin des Jahres" gekürt worden. Diesen Titel verlor sie nach dem Enthüllungsartikel.
    "Ich hatte große Sorgen, dass ich der Letzte war, der sie am Leben sieht"
    Dass das journalistische Prunkstück aber eine dunkle Kehrseite hatte, zeigt der zweite Text. Derek Scally, Berlin-Korrespondent der "Irish Times" berichtet darin von einer bizarren Begegnung mit Marie Sophie Hingst. "Ich habe sie eine Woche nach dem Erscheinen des Artikels getroffen", erzählte Scally im Dlf. "In dieser Woche ist aus ihrer Sicht ihre gesamte Welt zusammengebrochen." Die Geschichte habe in Irland schnell die Runde gemacht. Er habe eine labile und fragile Frau getroffen.
    Eigentlich hatte er eine Geschichte über ihre Fälschungen geplant. Beim Interviewtermin am Wannsee habe die 31-Jährige ihn aber dann aber nicht einmal begrüßt und murmelnd mit sich selbst geredet, wie der Journalist in seinem Artikel berichtet. Er entschied daraufhin, die Geschichte fallenzulassen. "Ich hatte große Sorgen, dass ich der Letzte war, der sie am Leben sieht", sagte der Korrespondent. "Zu diesem Zeitpunkt habe ich gesagt, eine Frau mit psychologischen Problemen gehört nicht in unsere Zeitung." Gleichzeitig beschrieb er Hingst aber auch als empathisch, großzügig und erfinderisch.
    "Ist Empathie nicht kompatibel mit Journalismus?"
    Besorgt habe er nach dem Gespräch Hingsts Mutter kontaktiert. Auch in den kommenden Wochen habe er Kontakt mit der Mutter gehalten – als eine Berichterstattung schon vom Tisch war, wohlgemerkt. Die Frage, ob das die Rolle eines Journalisten überfordere, beantwortete Scally mit einer Gegenfrage: "Ist Empathie nicht kompatibel mit Journalismus?" Er habe vor allem aus Sorge und Nächstenliebe gehandelt.
    So hoch ihm dieses Engagement anzurechnen ist, so stellt sich doch die Frage, ob die Verantwortung von Journalisten bis hin zu einer solchen "Nachsorge" reicht - und ob Medienschaffende das überhaupt leisten können. Das sei ein vorbildliches Verhalten des Journalisten gewesen, sagte Journalistikprofessor Klaus Meier im Dlf, fügte aber hinzu: "Ich denke nicht, dass man das in jedem Fall verlangen kann."
    "Psychische Erkrankungen gehören nicht in die Öffentlichkeit"
    Journalisten hätten bei der Recherche die Aufgabe, Menschen vor sich selbst zu schützen und zu überlegen, wie sie Interviewpartner mit ihren Aussagen möglicherweise selber schaden könnten. "Das ist immer ein Abwägungprozess", stellte der Journalistikprofessor klar.
    Im Fall Hingst gebe es sowohl für als auch gegen die Berichterstattung gute Argumente, sagte Meier. "Die Bloggerin hat ja auch selbst die Öffentlichkeit schon lange gesucht und war eine Person der Öffentlichkeit, insofern besteht natürlich auch ein öffentliches Interesse, wenn sie die Öffentlichkeit in die Irre geführt hat."
    Generell gelte, dass psychische Erkrankungen nicht in die Öffentlichkeit gehören - das sei auch im Pressekodex festgeschrieben. "Wenn Journalisten über psychische Erkrankungen berichten, müssen sie sehr vorsichtig vorgehen", sagte Meier. "Das öffentliche Interesse muss auf jeden Fall immer massiv überwiegen gegenüber eben diesen schutzwürdigen Interessen von Betroffenen."
    Fraglich ist, welche journalistische Alternative es zu der Offenlegung des Betrugs gegeben hätte. Eine Anonymisierung wäre angesichts der Tragweite des Falles wohl kaum möglich gewesen. In dieser Hinsicht ähnelt der Fall dem von "Spiegel"-Reborter Claas Relotius, der im vergangenen Dezember ebenfalls als Fälscher enttarnt worden war.
    Unterschiedliche Reaktionen in Irland und Deutschland
    Und zu den vielen offenen Fragen gesellt sich noch eine weitere: Warum setzte ausgerechnet eine irische Zeitung die Berichterstattung über Marie Sophie Hingst fort, nachdem der "Spiegel" die Geschichte scheinbar zu Ende erzählt hatte? Die Bloggerin hatte zwar dem "Spiegel" zufolge seit 2013 in Dublin gelebt, dort promoviert und zuletzt als Projektmanagerin gearbeitet. Das Treffen in Berlin hätte aber wohl auch ein deutsches Medienhaus anberaumen können.
    Die Reaktionen seien in Irland und Deutschland sehr unterschiedlich ausgefallen, berichtete Deutschland-Korrespondent Scally. Die Kommentare in Deutschland hätten häufig darauf fokussiert, dass Hingst hätte gestoppt werden müssen. In Irland habe hingegen der Mensch, der Hilfe brauche, im Vordergrund gestanden. Sie habe zwar furchtbare Sachen gemacht, es sei aber fraglich, ob man dazu fähig sei, das zu beurteilen, wenn man psychologisch erkrankt sei.
    Der Deutschlandfunk hat auch den "Spiegel" um eine Stellungnahme gebeten. Die Redaktion hatte die Anfrage bis zur Sendung allerdings noch nicht beantwortet.
    Ergänzung vom 30. Juli:
    Inzwischen hat sich "Spiegel"-Autor Martin Doerry gegenüber dem Deutschlandfunk geäußert. Er schreibt: "Der 'Spiegel' bedauert den Tod von Dr. Marie Sophie Hingst sehr. Wir möchten uns aus Gründen des Respekts für Frau Hingst und Ihre Familie nicht an einer öffentlichen Diskussion über die Gründe des Todes von Frau Hingst beteiligen. Der am 1. Juni erschienene Artikel ist in der Sache unumstritten. Frau Hingst hat bei meiner persönlichen Begegnung mit ihr am 23. Mai einen ruhigen, konzentrierten und selbstbewussten Eindruck gemacht. Sie hat noch vor der Veröffentlichung der Geschichte einen Anwalt eingeschaltet und wenig später mit juristischen Schritten gedroht, die aber nicht erfolgten. Der Kollege der 'Irish Times' hat sie erst nach dem Erscheinen des 'Spiegel'-Artikels getroffen und sie in einer entsprechend veränderten Verfassung erlebt. Seine Äußerungen über ihre psychische Disposition werden wir aus den oben genannten Gründen nicht kommentieren."