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Tödliche Langeweile

Ein Krimi, dessen Grundthema die Langeweile in der westlichen Welt ist, hat soeben Anne Holt vorgelegt. "Was niemals geschah" beginnt blutig und endet bedrohlich. Wie stets bei Anne Holt sind auch diesmal wieder die Mitwirkenden vom Schicksal gezeichnet: Das hält die Spannung und gibt Anne Holts neuestem Krimi das Potential zum Bestseller mit.

Von Ingrid Müller-Münch | 22.12.2005
    Nein, die Welt will sie nicht verändern, wie es zum Beispiel ihre schwedische Kollegin Liza Marklund noch immer anstrebt. Stattdessen setzt Anne Holt, Norwegens Krimi-Exportartikel Nummer eins, auf subtilere Effekte, kleinere Schritte, will den Leser häppchenweise zum Nachdenken anregen. So auch wieder mit ihrem neuesten Krimi, der soeben unter dem Titel "Was niemals geschah" im Piper-Verlag erschien.

    "Mein Hauptanliegen ist, dass sie entspannen und eine faszinierende Zeit mit der Lektüre meines Buches verbringen. Allerdings kann man heutzutage, glaube ich, keinen modernen nordeuropäischen Kriminalroman schreiben, ohne die eigene Gesellschaft widerzuspiegeln. Ich glaube zutiefst, dass meine Aufgabe als Schriftstellerin nicht die einer Missionarin ist. Meine Rolle ist es auf jeden Fall überhaupt nicht, irgendwelche Fragen zu beantworten. Ich will allerdings schon einige Dinge, die mich bewegen, ansprechen. Wenn die Leser durch meine Bücher dazu angeregt werden, ein wenig über das nachzudenken, wovon ich spreche, gut, dann habe ich sozusagen einen doppelten Effekt erreicht. "

    Sagt Anne Holt und gibt den Zuhörern während ihrer Deutschlandtournee einen Eindruck von der Sprache, in der sie ihre Erfolgsromane schreibt. Nicht ohne zuvor ein wenig mit dem schlimmsten zu drohen, mit dem man Krimilesern in Angst und Schrecken versetzen kann.

    "Manchmal frage ich mich auf Lesungen, warum ich den Leuten nicht die beiden letzten Seiten meines Buches vorlese. Lachen. Aber ich tue es nicht. Ich werde ganz ganz vorne anfangen."

    Und so steigt sie denn ein, in die Geschichte um einen Serienmörder, dessen Motive der Kriminalpolizei gänzlich unklar bleiben. Um ihr neuestes Protagonistenpaar, den Superintendenten Yngvar Stubo und seine Frau, die Profilerin Inger Johanne Vik. Und um blutige Morde, überforderte Polizei und eine in die Ermittlungen eingeschaltete junge Mutter, die nicht weiß, wo ihr der Kopf steht. Denn Stubo und Vik haben soeben ihr erstes gemeinsames Kind bekommen, versuchen, umgeben von Windeln und Milchfläschchen, schlaflosen Nächten und Sorgen um die neue Kleinfamilie, nicht die Spur des Mörders zu verlieren.

    "Mein Hauptinteresse gilt kaputten ebenso wie funktionierenden Familien. Mit Inger Johanne und Yngvar Stubo beschreibe ich eine funktionierende Familie. Was in der Literatur eigentlich nie beschrieben wird. Da dreht sich immer alles nur um die kaputten Familien. Deshalb war es für mich geradezu eine Herausforderung, einmal darzustellen, wie eine Familie funktioniert. Auch wenn sie überfordert wird, wenn ein so schrecklicher Mordfall sie belastet. Weil beide sich in die Ermittlungen um diese brutalen Morde einschalten. Ich möchte gerne die skandinavische Familie von Heute darstellen."

    Wenn das die typisch skandinavische Familie von heute ist, die Anne Holt in ihrem neuesten Krimi charakterisiert, dann geht es da doch ziemlich hoch her. Der Stress mit dem neugeborenen Kind führt bei Inger Johanne Vik zu Alpträumen und schlaflosen Nächten. Als dann noch ihr Mann, überfordert mit anhaltenden Serienmorden, um ihre Mithilfe bittet, weiß sie wirklich nicht mehr, wo ihr der Kopf steht. Doch sie allein könnte, wenn ihr das Baby die Zeit dazu ließe, ein Profil des unbekannten Täters erstellen. Nur sie hat beim FBI Profiling erlernt, also das Erstellen von Täterprofilen, allein aufgrund der Indizien, die ein Mörder hinterläßt. Doch die Erinnerung an ihre FBI-Zeit lässt Inger Johanne Vik an ein Geheimnis rühren, dass sie tief in ihrem Herzen vergraben hatte.

    "Ich habe in meinem ganzen Leben noch keine Frau getroffen, die nicht ängstlich war und sich um ihre Kinder sorgte. So sind Frauen nun mal. Das ist eine typisch weibliche Charaktereigenschaft. Wir machen uns einfach zuviel Sorgen. Deshalb habe ich Inger Johanne Vik so völlig normal kreiert. Aber sie hat natürlich Geheimnisse, wie wir alle. Wenn wir keine hätten, würde es für die Polizei ziemlich leicht sein, jedes Verbrechen aufzuklären. Der Grund, warum Verbrechen so schwer aufzuklären sind, liegt genau darin, dass jeder Geheimnisse mit sich rumschleppt und jeder lügt. Wir erzählen niemals die Wahrheit. Wir versuchen, unsere weniger attraktive Seite zu verbergen, wenn wir mit jemanden reden. In einer Polizeiermittlung denkst du immer, das muss ich denen ja nun wirklich nicht erzählen. Dass ich einen Liebhaber habe, hat ja nichts mit ihren Ermittlungen zu tun. "

    Anne Holts neuestes Buch beginnt blutig und endet bedrohlich, so dass man sich einen etwas versöhnlicheren Schluss wünschte. Aber sie wäre nicht die Anne Holt mit dem Dickkopf, wenn sie gefällige Krimis schreiben würde. Wenn sie Lösungen anböte, die sich zu Nachmittagskeksen und heißer Schokolade mit Sahne eigneten. Stattdessen wird dem Leser einiges zugemutet, an Blut, an verwickelten Ermittlungen, an einem äußerst spektakulären Ende. Und einem Thema, das zwar mit Langeweile zu tun hat, aber nicht langweilig ist.

    "Mein neues Buch handelt vor allem von der Langeweile in unserer westlichen Welt. Seit Jahren schon fasziniert mich die Tatsache, dass die Bürger der westlichen Welt sich tödlich zu langweilen scheinen. Mich fasziniert, dass mehr und mehr Leute sich Gefahren aussetzen. ´Ich habe mich schon oft gefragt, was jemanden dazu bringt, den Mount Everest zu besteigen. Da ist nichts. Viele Leute waren schon vor ihm da. Ich könnte noch verstehen, wenn man der erste wäre. Das wäre ja noch eine Art Herausforderung. Aber wieder und wieder den Berg zu erklimmen, ist sehr gefährlich. Die ersteigst ihn im wahrsten Sinne über Leichen. Und dann musst du wieder runterklettern. Wenn du später nachfragst, warum jemand das gemacht hat, bekommst du zur Antwort: ich habe es getan um mich lebendig zu fühlen."

    Und genau deshalb geschieht in Anne Holts neuestem Krimi ein Mord nach dem anderen. Und spiegelt damit auf seine Art die Gesellschaft wieder, so wie die norwegische Autorin sie derzeit erlebt. Wichtig ist ihr dabei, dass ihre Geschichten auf der ganzen Welt verstanden werden.

    "Das ist das Hauptmerkmal von guten Kriminalromanen, egal wo sie herkommen. Ich habe selbst in Japan einige hundert Bücher verkauft. Ich schreibe ja auch über universell vorkommende Dinge. Nur die Umgebung dürfte mancherorts etwas fremd wirken. Aber Kriminalromane beschäftigen sich mit Fragen, die geradezu biblischen Ursprung haben: wie Schuld, Hass, Strafe. Und das sind weltweit vorkommende Anliegen. Und wenn man sie nach Reykjavik oder Kadmandu oder Dortmund oder Oslo verlegt ändert das nichts daran, dass sie universelle Gefühle widerspiegeln."

    Anne Holt kennt das Milieu aus dem Effeff, in dem auch ihrer neuester Krimi spielt. In ihrem früheren Leben war sie Polizeiberaterin, Rechtsanwältin, norwegische Justizministerin. Kürzlich erst hat sie ihre Lebensgefährtin geheiratet, beide haben eine kleine Tochter. Ihr Leben wirkt übervoll. Von Langeweile keine Spur. Dennoch schreibt sie seit 13 Jahren jährlich einen Krimi. Nicht alle sind so gekonnt spannungsreich aufgebaut wie ihr Neuester. Der lässt den Leser bis zum ungewöhnlichen Ende nicht los. Zwingt ihn, sich auf komplizierte Biographien einzulassen, auf durch eine unstillbare Unruhe geplagte Menschen. Wie stets bei Anne Holt sind auch diesmal wieder die Mitwirkenden an diesem ganz besonderen Plot angeschlagen, vom Schicksal gezeichnet. Was die Spannung hält und Anne Holts neuestem Krimi das Potential zum Bestseller mitgibt. Einem Status, den "Was niemals geschah" in Norwegen längst erreichte.

    Anne Holt: "Was niemals geschah", Piper, 11/05 19,90, Ü Norw Gabriele Haefs,
    384 Seiten, ISBN: 3-492-04762-9