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Tödliche Schande

Wer sich als Muslimin nicht verschleiert und nach westlichen Maßstäben lebt, muss mit der Rache der Familie rechnen. Sogenannte Ehrenmorde sind in Großbritannien längst keine Seltenheit mehr; zumal die Moralvorstellungen, die zu den Gewaltverbrechen führen, von Generation zu Generation weitergegeben werden.

Von Ruth Rach | 30.01.2009
    James Brandons Büro liegt in einer Seitenstraße im Herzen von London. Ein helles, freundliches Gebäude. Sein Arbeitszimmer ist mit einem dicken weissen Teppichboden ausgelegt. Im Regal stapeln sich Bröschüren. Crimes of the Community, steht darauf zu lesen. Ehrenverbrechen in Großbritannien. Die Studie hat er zusammen mit Salam Hafez verfasst.

    "Das Thema taucht fast jeden Monat in unseren Medien auf. Dennoch gibt es keine detaillierten Untersuchungen. Was uns am meisten überrascht, ist dies: das Denken, das hinter diesen Verbrechen steckt, hat sich über Generationen gehalten."

    Die Autoren haben über 80 Interviews geführt: mit Opfern, Ermittlern, Vertretern von Hilfsorganisationen, in Communitys, Frauenhäusern, Moscheen.

    "Das Grundübel ist, dass Frauen in manchen Gemeinschaften fast wie ein Stück Ware betrachtet werden, das Einkommen und Status der Familie steigert, je nachdem, wen sie heiraten und wie sie sich verhalten. So gesehen versteht man auch, warum manche Familien Extremmaßnahmen ergreifen, wenn es um ihre Ehre geht. Die Frauen haben einen konkreten materiellen Wert."

    Verbrechen im Namen der Ehre haben kulturelle und soziale Ursachen, die durch religiöse Bezüge legitimiert werden, glaubt James Brandon. Und er ist überzeugt: Das multikulturelle Gesellschaftsmodell in Großbritannien hat über die Jahrzehnte noch dazu beigetragen, diese archaischen Praktiken am Leben zu erhalten.

    "Das multikulturelle Modell bedeutet, dass alle kulturellen Gemeinschaften so akzeptiert werden müssen, wie sie sind und nicht kritisiert werden dürfen. Niemand darf sich einmischen. Allerdings werden auch in Frankreich, Deutschland, Italien Ehrenmorde verübt - und diese Länder haben andere Gesellschaftsmodelle. Unser Multikultimodell ist also nicht alleine daran schuld."

    In den pakistanischen Communitys Nordenglands sei das Problem am weitesten verbreitet, sagt James Brandon. Das liege zum Teil daran, dass viele Migranten aus rückständigen ländlichen Gegenden stammten und sich in Großbritannien nicht integriert hätten.

    "In diesen nordenglischen Kleinstädten leben einheimische Arbeiter und südasiatische Migranten nebeneinander, ohne dass sie sich jemals kennenlernen. Die Zuwanderer leben genauso wie in ihrem Herkunftsland, und sie haben keinen Grund, das zu ändern."

    Zu Konflikten kommt es dann, wenn sich die Töchter und Schwestern unabhängig machen wollen. Dann fürchten die Männer um ihre Privilegien und machen den Frauen ihr Leben zur Hölle.

    Einer der schockierendsten Fälle ist Samaira Nazir, eine 25-jährige Muslimin aus London. Sie machte Karriere, und bestand darauf, den Mann ihrer Wahl zu heiraten. Daraufhin wurde sie ins Elternhaus einbestellt und von ihrem Bruder und ihrem Cousin mit zahlreichen Messerstichen und einem Schnitt durch die Kehle hingerichtet. Ihr Vater soll sie dabei festgehalten haben. Er ist anschließend nach Pakistan geflohen. Ihre Mutter weigerte sich, ihr zu helfen. Sie wurde später vom Richter freigesprochen. Samairas kleine Cousinen wurden gezwungen zuzusehen.

    ""Das war eine Warnung, um ein blutiges Exempel statuieren. Kein Verbrechen aus Leidenschaft, sondern ein kalt geplanter Ritualmord, der die Familienehre wiederherstellen sollte. Die Täter zeigten keine Reue. Als Wächter und Richter über ihre Frauen hatten sie lediglich ihre Pflicht getan."

    James Brandon hat sich mit seinen Studien viele Feinde geschaffen: dazu gehören Politiker in vorwiegend muslimischen Wahlkreisen, denen er vorwirft, dem Thema aus Angst um Wählerstimmen aus dem Weg zu gehen. Dazu gehören Sprecher von Minderheiten, die ihm Rassismus und Fremdenfeindlichkeit vorwerfen.

    James Brandon reagiert gelassen. Er hat die Sicherheitsvorkehrungen in seinem Büro verstärkt. Inzwischen arbeitet er für die Quilliam Foundation, einen Thinktank, der von ehemaligen Islamisten gegründet wurde. Dieser Thinktank bemüht sich darum, den westlichen Alltag und religiöses Leben für britische Muslime in Einklang zu bringen.