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Toiletten-Doku bei Arte
Reden über einen stillen Ort

Anlässlich des Welttags der Toilette beschäftigt sich Arte mit der Kulturgeschichte dieses so wichtigen und gleichzeitig tabuisierten Alltagsgegenstandes. Die Dokumentation von Thierry Berrod zeigt Hightech-Toiletten in Japan ebenso wie öffentliche Kloaken in Indien.

Von Kolja Unger | 19.11.2020
Kinder benutzen eine öffentliche Toilette in der liberianischen Hauptstadt Monrovia.
Kinder benutzen eine öffentliche Toilette in der liberianischen Hauptstadt Monrovia. (picture-alliance / dpa / Ahmed Jallanzo)
"Die Europäer haben die Toilette erfunden. Aber seit dem 19. Jahrhundert kaum weiterentwickelt." Eine Aufgabe, die nun vermehrt von Ost-Asiaten wie ihm, Jack Sim von der World Toilet Organisation übernommen wird. Mit seiner Abhandlung über Toiletten und Ideologien hat einer der einflussreichsten Philosophen Slavoj Zizek bereits verdeutlicht, wie viel wir anhand ihrer Klos über Kulturen erfahren können. Und genau das ist auch der Ansatz der Arte Doku "Das Toilettentabu".
Von Schamgefühl und Spülgeräuschen
Da wären die zahlreichen Erfindungen von Toilettenbaufirmen wie Toto. Das japanische Unternehmen hält einen Weltrekord in Patenten, die sich alle um den Abort drehen. Aber warum sind gerade die Japaner so besessen darauf, neue Klos zu bauen? Zum einen gibt es einen großen kulturellen Leidensdruck: "Japaner sind schamhaft. Vor allem die Frauen. Sie wollen nicht, dass Geräusche zu hören sind, wenn sie zum Beispiel Pipi machen," erklärt Shihohiko Takahashi von der Japan Toilet Association die Marktführerschaft seines Landes.
Die Not mit dem Kot macht erfinderisch. In Japan der Renner: Eine Taste neben der Spülung. Mit der lassen sich künstliche Spülgeräusche abspielen. Regisseur Thierry Berrod führt uns aber auch in die polytheistische Götterwelt des Inselstaates ein: "Das ist Ususama Mio, der Gott der Toiletten," erklärt uns der Mönch Guyushima Nakajima. "Er sorgt dafür, dass wir keine Bauchschmerzen bekommen. Weil der Gott der Toiletten stets an unserer Seite ist, haben wir Japaner die High-Tech-Toiletten entwickelt."
Denkt die Toilette mit, bleibt der Mensch gesund
Die japanischen High-Tech-Toiletten verbrauchen viel weniger Wasser als unsere Standard-Schüsseln. Sie können aber auch wichtig sein für eine permanente Gesundheitsprävention, ohne Arztbesuch, ohne Stuhlprobe, nämlich mit dem Analysesitz "Washlet": "Das kann auf Ihrer Toilette befestigt werden. Einmal installiert können Sie die Informationen über ihre Darmbakterien an ihre Cloud schicken, die Daten analysieren lassen und sich die Ergebnisse auf ihrem Smartphone ansehen."
Der Fokus der europäischen Toilettenentwicklung liegt darauf, Wasser zu sparen und mit intelligenten Trenn- und Wiederaufbereitungsverfahren aus den Ausscheidungen einen Nutzen zu ziehen. So zum Beispiel diese mechanische Toilette, die kein Wasser benötigt. Wir sehen aus der Perspektive einer Kloschüssel, wie britische Wissenschaftler künstliche Kackwürstchen in uns werfen und wir sie mechanisch verarbeiten. "Die Nanomembran-Toilette hat einen Rotationsmechanismus, der als Spülung fungiert." Kot und Urin werden getrennt und können danach zum Düngen verwendet werden. Der Bedarf an sparsamen und wertschöpfenden Toiletten ist groß. Vor allem in schnell wachsenden Schwellenländern wie Indien.
800 Millionen Menschen ohne Zugang zu Toiletten
"In diesem Slum haben wir nur vier Toiletten für 15.000 Menschen. Jeden Morgen gibt es lange Schlangen. Deshalb erleichtere ich mich immer im Freien", sagt ein Bewohner. Die Kamera zeigt einen verdreckten Fluss, an dessen Ufer sich weitere Inder erleichtern. Ein Bild, das folgende Informationen nicht besser illustrieren könnte.
"Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass 80 % der endemischen Krankheiten in Indien mit mangelnder Hygiene und verschmutztem Wasser zusammenhängen. Bis heute haben 800 Millionen Inder keinen Zugang zu Toiletten."
Die indische Regierung will daher mehr als 100 Millionen Toiletten bauen – was übrigens schon Gandhi forderte. Ein Problem dabei ist allerdings, dass Toiletten einen schlechten Ruf haben, als unrein gelten und daher etwas sind, womit sich nur Frauen aus der untersten Kaste, den Unberührbaren zu beschäftigen haben. "Ich mache diese Arbeit schon seit frühester Kindheit", sagt eine junge Frau und eimert für ein geringes Salär halb-flüssige Ausscheidungen aus einem Loch. Solche Bilder bleiben in Erinnerung und zeigen auf, warum die Toilettenfrage eine nach globaler Gerechtigkeit ist. Die Kunst, auch heute noch Tabus aufzugreifen, nicht allein des Tabus wegen, sondern weil man mit dessen Bruch etwas Wichtiges erreichen kann - das gelingt Thierry Berrod mit dieser Doku auf beeindruckende Weise.