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Tom Drury: "Das stille Land"
Das Geräusch des Atmens

Tom Drurys Roman "Das stille Land" ist eine Liebeserklärung an seine Heimat Iowa. Er ist wie ein Gesang, der sich vom leisen Atmen zweier Liebender bis zum grellen Schuss aus der Schrotflinte aufspannt.

Von Tobias Lehmkuhl | 11.02.2016
    Die Hauptstraße von McGregor, Iowa, im Mittleren Westen der USA, aufgenommen am 20.3.2012.
    Die Hauptstraße von McGregor, Iowa, im Mittleren Westen der USA. (picture-alliance / dpa / Yannick Tylle)
    "Driftless Area" heißt der neue Roman von Tom Drury im Original, und diese Driftless Area gibt es tatsächlich, es ist eine Gegend im nordöstlichen Iowa, die von der Drift, also dem Geröll, das Gletscher während der letzten Eiszeit vor sich herschoben, verschont geblieben ist. Verschont geblieben ist diese Gegend bis heute auch von der Aufmerksamkeit der meisten Menschen. Größere Städte gibt es hier nicht, dafür viel Landwirtschaft, riesige Felder und hier und da einen kleinen Ort mit Bar und Bowlingbahn. Einer dieser Orte könnte Shale sein, die fiktive Kleinststadt in der Drurys Roman spielt. "Das stille Land" übrigens ist der passend übersetzte Titel eines erstklassig ins Deutsche übertragenen Werks.
    Seine Hauptfigur, Pierre Hunter, ist ein erstaunlich gleichmütiger Mensch, aber offenbar sind die Menschen in Iowa, sind zumindest alle Figuren in diesem Roman allzu großen Aufregungen in aller Regel abhold. Für eine Weile zwar verlässt Pierre Hunter das kleine Shale, um zu studieren - dann aber kehrt er zurück, um im örtlichen Restaurant Barkeeper zu werden. So eintönig die Landschaft, könnte man meinen, so ambitionslos ihre Bewohner. Aber natürlich sucht hier jeder, wie wir auch, nach dem Glück, nur dass dieser Vorgang in Iowa etwas ruhiger und unauffälliger vonstatten geht als anderswo. Pierre Hunters Glück heißt Stella Rosmarin, und Pierres und Stellas erste Nacht miteinander ist nichts weniger als ein Versuch in Metaphysik:
    "Und worauf hatten sie es abgesehen? Es ging nicht nur um das gute Gefühl von Reiben und Gleiten, obwohl das unbedingt dazugehörte. Vielleicht gab es einstmals, vor dem Beginn des individuellen Denkens, eine Zeit, in der das Gefühl in die Welt getreten war und alle es auf die gleiche Weise verstanden hatten. So ähnlich war es jetzt: Diese Zeit wieder zu finden und sie eine Nacht lang zu durchleben. Sich zu vereinigen wie beim Ehegelübde. Es war wie dieses eine einzige Wort, von dem Pierre gesprochen hatte, als er damals so betrunken gewesen war, dieses Wort, das alles sagte, und dieses Wort war das Geräusch des Atmens."
    Eigenen Weg gefunden, mit Übernatürlichem umzugehen
    Beim Schlittschuhlaufen ist Pierre ins Eis des örtlichen Sees eingebrochen, da hat ihn Stella gerettet, Stella, die allein und fernab des Ortes über dem See wohnt und Pierres Einbrechen voraus sieht, bevor er sich überhaupt die Schlittschuhe anzieht. Etwas also scheint hier nicht mit rechten Dingen zuzugehen, schon ihr Name - Stella Rosmarin - wirkt wie von einer anderen Welt, einer, die zu schön ist, um wahr zu sein. Nicht nur die Metaphysik, plötzlich scheint in dieser bäuerlich-prosaischen Umgebung auch Übernatürliches vonstatten zu gehen. Vielleicht ist es gerade die Eintönigkeit, ja Ideenlosigkeit der Landschaft, die den Umgang mit Traumwelten befördert - nicht umsonst hieß Tom Drurys erster auf Deutsch erschienener Roman "Die Traumjäger".

    In "Das stille Land" geht er nun weiter und lässt diese irrationalen Traumwelten, wenn man so will, fiktionale Wirklichkeit werden. Er schreibt etwas, das man einst, auf südamerikanische Literatur gemünzt, "Magischen Realismus" nannte. Menschen sehen Dinge voraus, die sich gemeinhin nicht voraussehen lassen, Tote kehren zurück, um ihre Mörder zu jagen. Das mag in einer Zeit, in der ein knallharter Realismus tonangebend ist, befremdlich anmuten. Aber "Das stille Land" ist alles andere als ein Zwitter aus typisch amerikanischem Provinzroman und "Hundert Jahre Einsamkeit". Drury hat vielmehr seinen ganz eigenen, sehr leisen und höchst überzeugenden Weg gefunden, mit dem Übernatürlichen umzugehen, es wie nebenbei in seine Prosa einfließen zu lassen. Und wenn es ein sogenannter Glücksstein ist, der wie von unsichtbarer Hand gelenkt, punktgenau sein Ziel trifft, umso besser.
    "Er sprang auf, griff nach dem Glücksstein in seiner Jackentasche, holte aus und warf den Stein nach dem Truck. Manchmal geschehen Dinge, die dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zu widersprechen scheinen, der besagt, dass alle Prozesse sich in Richtung Chaos entwickeln. Einmal hatte Pierre ein Feuerzeug auf den Gehweg fallen lassen, und es war aufrecht stehend auf dem Boden gelandet. Und jetzt fuhr der Pick-up wieder an, wobei seine Reifen auf dem Asphalt durchdrehten, ohne Halt zu finden, aber das spielte auch keine Rolle, denn der Stein schien, während er durch die Luft flog, genau zu wissen, was von ihm erwartet wurde, er beschrieb einen leichten Bogen, glitt abwärts, schoss durch das Fenster und traf den Fahrer."
    Prosa mit eigenwilligem Witz
    Dieser Fahrer, ein Dieb und Mörder, hatte versucht, mit Pierres Rucksack davonzufahren. Da der Glücksstein ihn aber entgegen aller Wahrscheinlichkeit trifft, gelingt ihm das nicht. Mit dem Flug des Glückssteins aber kommt auch gleichsam der Stein der Handlung ins Rollen. Der Fahrer, nachdem er aus der Ohnmacht erwacht ist, versucht Pierre, den er als Tramper mitgenommen hatte, ausfindig zu machen, um ihm eine Kugel in den Kopf zu jagen. Dass Pierre selbst eine Art Glücksstein ist, ein Instrument der Rache nämlich - Stella Rosmarins Rache -, ist ihm nicht bewusst. So kommt es am Ende zum geradezu westernhaften Showdown in einem alten Obstgarten.
    "Pierre betrat die Hütte des Obstgartens und nahm seine Schrotflinte vom Dachsparren. Die Patronen lagen in einer Schachtel in der Tischschublade. Er dreht die Flinte um, lud sie mit fünf Patronen und steckte noch ein Dutzend in die Tasche, wobei er dachte, wenn das nicht genügte, wäre es gleichgültig, wie viele er dann noch hätte."
    Ein gewisser lakonischer Witz ist Tom Drurys Prosa zu eigen, wobei man diese Prosa eigentlich nicht lakonisch nennen kann, so schlicht und einfach sie auch daherkommt. Lakonie bringt man allzu leicht mit Kälte oder zumindest Kühle und Coolness in Verbindung. "Das stille Land" aber hat damit nichts zu tun. Der Roman ist, auch wenn Mörder, Betrüger und Untote darin vorkommen, ein warmherziger, ja seltsam erhebender Roman, eine Liebeserklärung an eine Landschaft und ihre Bewohner, fast ein Gesang. Ein Gesang freilich, der vom leisen Atmen zweier Liebender bis zum gellenden Schuss aus der Schrotflinte sich aufspannt.
    Tom Drury: "Das stille Land"
    Übersetzt von Gerhard Falkner und Nora Matocza
    Klett-Cotta 2015. 216 Seiten, 19,95 Euro