Freitag, 19. April 2024

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Tomás Luis de Victoria und Michel Lambert
Finstermetten in der Karwoche

"Trauermetten" wurden die ursprünglich nächtlichen Stundengebete in der katholischen Kirche während der Karwoche auch genannt. Es sind hochemotionale Vertonungen der Klagelieder des Propheten Jeremias. Zwei neue CDs illustrieren beispielhaft, wie unterschiedlich die Musik in Spätrenaissance und Barock vertont wurde.

Am Mikrofon: Rainer Baumgärtner | 30.03.2018
    Der Sänger Marc Mauillon
    Der Sänger Marc Mauillon (Laurent Grigord)
    Musik: Anonymus (gregorianisch), Incipit lamentatione Jeremiae Prophetae (Nokturn I an Gründonnerstag, 1.Lesung)
    Die nächtliche Gebetszeit in Klöstern und Kathedralkirchen heißt Vigil oder Matutin — davon leitet sich das deutsche Wort Mette ab. Die Vigilien der Kartage, die "Trauermetten", zeigen sich besonders kunstvoll zusammengestellt, wobei die symbolische Zahl ‚drei‘ eine entscheidende Rolle spielt.
    Die symbolische Zahl 3 gliedert die nächtlichen Gebetszeiten
    Jede nächtliche Gebetszeit besteht aus drei Teilen, den "Nokturnen". Diese wiederum enthalten jeweils drei Psalmen und drei Lesungen mit Begleitgesängen, so genannte Responsorien. Die Lesungen in den ersten Nokturnen an Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag bestehen alle aus Abschnitten aus den Klageliedern des Propheten Jeremias im Alten Testament. Traditionell wurden diese einstimmig in lateinischer Sprache rezitiert.
    Ein Spanier macht Karriere in Rom
    Das englische Ensemble stile antico hat auf seiner neuen CD mit Kompositionen von Tomás Luis de Victoria auch ein paar Klagelieder des Jeremias in der einstimmigen, "gregorianischen" Fassung aufgenommen.
    Sie kontrastieren mit dem Kern der Aufnahme, den von Victoria vierstimmig vertonten Responsorien aus den zweiten und dritten Nokturnen für die drei Tage vor Ostern. Der Spanier war mit 17 Jahren nach Rom geschickt worden, wo er bei den Jesuiten studierte, zum Priester geweiht wurde und eine steile Karriere als Organist und Chorleiter erlebte. Direkt vor seiner Rückkehr nach Madrid im Jahr 1585 veröffentlichte er seine Sammlung "Officium Hebdomadae Sanctae", in der er insgesamt 37 Elemente der Karwochenliturgie mehrstimmig vertont hat, darunter 18 "Tenebrae-Responsorien". Es handelt sich um die umfangreichste Bearbeitung dieses Repertoires im Stile der franko-flämischen Vokalpolyphonie.
    Musik: Tomás Luis de Victoria, Unus ex discipulis meis (Nokturn II an Gründonnerstag, Responsorium III)
    "An diesem Tage wird mich einer meiner Jünger verraten", mit diesen Worten beginnt das Responsorium aus der zweiten Nokturn an Gründonnerstag, das sich auf der neuen CD von "stile antico" findet. Es ist die zwölfte des Ensembles und mit ihr kehren die aus der Chortradition von Oxford und Cambridge stammenden Mitglieder in die Gründungsphase 2001 zurück, als die "Tenebrae-Responsorien" von Tomás Luis de Victoria die erste Musik waren, die sie gemeinsam sangen.
    Eine Domäne englischer Ensembles
    Dieser Zyklus der Responsorien für die Kartage ist in den vergangenen Jahrzehnten schon einige Male ganz oder in Teilen aufgenommen worden, zumeist von englischen Vokalformationen. Victorias in idealen Proportionen komponierte und in schönen Melodielinien dahinfließende Vokalpolyphonie der Spätrenaissance scheint den Klangvorstellungen englischer a cappella-Ensembles also besonders nahe zu kommen.
    Frauen durften in den römischen Kirchen der Spätrenaissance nicht singen
    Dabei verfestigt sich bei den zwölf Mitgliedern (sowie zwei Gästen) von "stile antico" der Trend, die liturgischen Werke von Victoria mit Sängern und Sängerinnen aufzuführen — in der Zeit um 1600 waren Gesangsdarbietungen von Frauen in römischen Kirchen noch ausgeschlossen! Trotz der perfekten Intonation, die das Ensemble auch hier wieder offeriert, stellt sich die Frage, ob die hellen Frauenstimmen dem dunklen Gehalt der Gesänge in vollem Maße entgegenkommen. Außerdem ist diskutabel, ob der satte Chorklang, den das Besetzen jeder Stimme mit drei Personen hervorruft, die Intensität und Intimität der Stücke unterstützt.
    Das Vokalensemble Stile Antico
    Das Vokalensemble Stile Antico (Marco Borggreve)
    Unabhängig davon kann das in einer viktorianischen Londoner Kirche mit angemessenem Nachhall aufgenommene Programm aber mit großer Ausgewogenheit und mit Feingefühl überzeugen. Und einer im 18.Jahrhundert aufgekommenen Tradition folgend sind zwei der Gesänge auch ausschließlich mit Männerstimmen besetzt, darunter das Responsorium, das den ‚Finstermetten‘ den Namen gab: "Tenebrae factae sunt — Es ward eine Finsternis, als die Juden Jesus kreuzigten."
    Musik: Tomás Luis de Victoria, Tenebrae factae sunt (Nokturn II an Karfreitag, Responsorium II)
    Knapp 80 Jahre, nachdem Tomás Luis de Victoria im Rom der Gegenreformation seine vierstimmigen "Tenebrae"-Vertonungen im "alten Stil" herausgebracht hatte, kam im Paris des Sonnenkönigs eine andere Art der musikalischen Gestaltung der "Trauermetten" an den Kartagen in Mode.
    Ein französisches Novum am Hof des Sonnenkönigs
    Von Italien aus hatte sich inzwischen der neue Stil des generalbassbegleiteten Sologesanges durchgesetzt. Und nun war es Michel Lambert, Kammermusiker und nachmaliger Kapellmeister von Ludwig XIV., der als erster französischer Komponist die Klagelieder des Jeremias in dieser Weise vertonte.
    Der Schwiegervater des einflussreichen Jean-Baptiste Lully hat die "Lamentationes Jeremiae" 25 Jahre später noch einmal für die Gottesdienste im königlichen Umfeld vertont. Lamberts frühere Fassung hat der Bariton Marc Mauillon mit Unterstützung dreier Gambe, Theorbe und Orgel bzw. Cembalo spielender Musikerkollegen nun erstmals komplett aufgenommen.
    Musik: Michel Lambert, Leçons de Ténèbres: Incipit Lamentatio Jeremiae – Aleph. Quomodo sedet sola (Nokturn I am Mittwoch, 1. Lesung)
    Die alttestamentlichen Klagelieder des Propheten Jeremias beschreiben in eindringlichen Worten die Zerstörung des Tempels in Jerusalem vor der Babylonischen Gefangenschaft der Israeliten. Während die Komponisten in der Zeit eines Tomás Luis de Victoria noch stärker an den "Tenebrae-Responsorien" interessiert waren, welche die Leidensgeschichte Jesu zum Inhalt haben, traten mit Michel Lamberts Vertonung nun die Klagelieder ins Zentrum.
    Symbolhafte Traditionen
    In dieser Zeit war man schon längst dazu übergegangen, die ursprünglich mitten in der Nacht gesungenen Nokturnen bereits am frühen Abend des Vortages zu feiern. Und es war der Brauch aufgekommen, während dieser Gottesdienste an den drei letzten Tagen der Karwoche — als Symbol für den Tod Jesu — nach und nach alle Kerzen in der Kirche zu löschen. Daher kommt die Bezeichnung "Finstermetten" oder "Tenebrae" für diese Gebetszeiten.
    Jede der insgesamt neun Lesungen aus den Klageliedern in den "Finstermetten" endet mit der Aufforderung "Jerusalem, Jerusalem, wende dich zum Herrn, deinem Gott!"
    Musik: Michel Lambert, Leçons de Ténèbres: Jerusalem, Jerusalem, convertere ad Dominum Deum tuum (Nokturn I an Gründonnerstag, 2. Lesung)
    Michel Lambert wurde mit seinen "Leçons de Ténèbres" zum Vorbild für eine Reihe weiterer französischer Komponisten, die in den nachfolgenden Jahrzehnten die Klagelieder des Jeremias ebenfalls vertonten.
    Gemeisterte Herausforderung
    Seine erste Fassung stellt für Herausgeber und Interpreten allerdings eine große Herausforderung dar, denn in seinem Notenmanuskript ist die Gesangslinie nur ganz schwer mit der Basslinie vereinbar. Lambert hat hier Melodielinien der Gregorianik mit dem äußerst kunstvollen höfischen Gesang der "Airs de cour" verknüpft, was sich insbesondere in den unablässigen Verzierungen der Gesangsstimme ausdrückt. Der 37-jährige hohe Bariton Marc Mauillon macht seine Sache in der neuen Aufnahme dabei ausgezeichnet, seine sehr gerade geführte Stimme klingt warm und elastisch. Insgesamt weist die in einer ehemaligen Gürtelfabrik in der Nähe von Avignon erfolgte Aufnahme einen sehr angenehmen Klang auf, sie ist präsent und ohne störenden Hall. Quellen aus Michel Lamberts Zeit beschreiben die Aufführung seiner "Leçons de Ténèbres" durch mehrere Sängerinnen, doch Marc Mauillon hat versucht, sich in den Komponisten hinein zu versetzen, der als begnadeter Sänger die Lamentationen sicherlich auch selbst aufgeführt hat.
    Instrumentalstücke gliedern die einzelnen Abschnitte
    Ein paar kleine Instrumentalstücke für Gambe und Theorbe ergänzen auf der neuen Doppel-CD die Vertonungen Lamberts. Es ist ihrem Entstehungsanlass geschuldet, dass die "Leçons" — genau wie auch die "Tenebrae-Responsorien" von Victoria — eine recht eingeschränkte Palette an Klangfarben und Affekten zu bieten haben, weshalb es sich empfiehlt, die CDs in Etappen anzuhören.
    Musik: Michel Lambert, Leçons de Ténèbres: Mulieres in Sion - Jerusalem, Jerusalem, convertere ad Dominum Deum tuum (Nokturn I an Karfreitag, 3. Lesung)
    Michel Lambert (1610-1696)
    Leçons de Tenebres des Mercredi, Jeudi et Vendredi Saints
    Marc Mauillon, Myriam Rignol, Thibaut Roussel, Marouan Mankar-Bennis
    +Hotman: Allemande & Courante
    +Gaultier: Tombeau de Mezangeau
    Künstler: Marc Mauillon, Myriam Rignol, Thibaut Roussel, Marouan Mankar-Bennis
    Label: harmonia mundi, DDD, 2017 , 2 CDs
    Tomás Louis de Victoria (1548-1611)
    Tenebrae Responsories
    Stile Antico
    Aus "Officium Hebdomadae Sanctae (Rom 1585)"
    Künstler: Stile Antico
    Label: harmonia mundi, DDD, 2017