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"Tomaten" von Reed Gračev
Porträt einer Epoche

Reed Gračev gehört zu den vergessenen Schriftstellern der Leningrader Literatur der 1960er-Jahre. Seine Erzählungen thematisieren das Recht der Menschen auf Individualität und Freiheit. In der Sowjetunion wurden die Bücher nicht gedruckt. "Tomaten", ein Band mit acht Erzählungen, liegt jetzt erstmals auf Deutsch vor.

Von Uli Hufen | 05.03.2015
    Wer schon mal in Russland war, kennt sie: füllige Verkäuferinnen mittleren Alters in bonbonfarbenen, an der Schulter und im Ausschnitt rüschenbesetzten Kleiderschürzen aus prima praktischem, abwaschbarem Mischgewebe. Schildchen auf der Brust verraten Initialen und Nachnamen, die meist stark geschminkten Gesichter ein hartes Leben voller Enttäuschungen. Es sind Frauen wie MP Rasskasowa.
    "Marija ist von allen Verkäuferinnen die dickste und die älteste. Sie steht hinter der Theke, als würde sie gehen. So den Kopf erhoben, so die Brust und den Bauch herausgestreckt. Sie steht und geht, geht und schwimmt, nach außen hin stolz - in Wirklichkeit aber gutmütig." (Aus: Gračev, "Tomaten") Marija Rasskasowa ist die Heldin der umwerfendsten von acht durch die Bank umwerfenden Erzählungen des russischen Schriftstellers Reed Gračev, dessen schmales literarisches Werk Ende der 50er-, Anfang der 60er-Jahre entstand und jetzt erstmals auf Deutsch vorliegt.
    Ein zu Unrecht vergessener Autor
    Gračev war die letzte Entdeckung des 2013 verstorbenen Peter Urban, den deutsche Leser als Übersetzer von Daniil Charms, Anton Tschechow, Isaak Babel und vielen anderen russischen Meistern kennen. Mit der Übersetzung von Gračevs Erzählungen setzte Urban seinem Werk nun einen ebenso großartigen wie verblüffenden Schlusspunkt: kein Weltstar, sondern ein zu Unrecht vergessener Autor, den allerdings niemand geringeres als Gračevs Altersgenosse, der spätere Nobelpreisträger Iosif Brodskij, für den besten russländischen Literaten seiner Zeit hielt. Superlative helfen in der Literatur selten weiter, aber Brodskij - so viel ist klar - Brodskij hatte Geschmack.
    "Ja, die Künstler, Schriftsteller, die - ja - die saufen, dass die eigene Mutter sie nicht wiedererkennt! - Da redest Du Unsinn, Petrovic, - widerspricht Marija auf einmal energisch. - Schriftsteller haben keine Zeit zu trinken, Schriftsteller schreiben." (Aus: Gračev, "Tomaten") In der nach der Verkäuferin "Marija" benannten Erzählung hat der Arbeiter Petrovic gerade Bierkästen in Marijas Laden geschleppt, jetzt fängt er ein Gespräch mit ihr an, weil er wenigstens eine Flasche Bier gern zum sofortigen Verzehr bekommen hätte. Und wie es so ist: Eine kleine, leichtfertig dahin geworfene Bemerkung hat ungeahnte Konsequenzen. Denn Marija Rasskasowa - der Nachname ist vom russischen Wort für Erzählung abgeleitet - weiß eines genau so sicher wie ihr Erfinder Gračev: Die Literatur gehört zu den wenigen Dingen, die das Leben erträglich machen. Sogar dann, wenn sie das Leben kostet.
    "Sie haben keine Zeit, sagte mit Bestimmtheit Marija. - Ich habe da mal so eine Geschichte gelesen über einen Schriftsteller. Sie hieß auch so: 'Keine Zeit'. Und er, der Unglückliche, hatte nie Zeit. Hat immer nur geschrieben, geschrieben und dann ist er auch an der Schwindsucht gestorben." (Aus: Gračev, "Tomaten") Nachdem sie ihren Busen bequem auf einer Bierkiste gelagert hat, erzählt Marija Petrovic uns ihre Lebensgeschichte und die des unglücklichen Schriftstellers, der - ob Schwindsucht, ob Liebe - immer schreiben musste; genau wie Marija, die - ob Krieg, ob Hunger, ob Tod und Verzweiflung - immer arbeiten musste, ein Leben lang.
    Damals lange um die Veröffentlichung gekämpft
    Das Buch mit der Erzählung über den Schriftsteller fand sie zufällig, als sie vor langer Zeit zur Beerdigung ihres Vaters aufs Land fuhr. Sie war noch klein, konnte aber schon lesen. Später liest sie ihrem Mann immer wieder aus dem Buch vor. Der war aus dem Krieg als halbseitig gelähmter Invalide heimgekommen. 1939 zieht dann auch ihr einziger Sohn Borja in den Krieg, als Freiwilliger, direkt vom elektrotechnischen Institut. Sie wird ihn nicht wieder sehen. Im Winter 1941 muss Marija dann ihr Buch verheizen - die Deutschen stehen vor den Toren Leningrads und haben beschlossen, die Millionenbevölkerung der alten russischen Hauptstadt bei klirrender Kälte auszuhungern. Aber Marija überlebt und kann die Geschichte vom schwindsüchtigen Schriftsteller, der keine Zeit hatte, nicht vergessen. Reed Gračev war 26 Jahre alt, als er die gerade einmal acht Seiten lange, tief traurige und lebenskluge Erzählung "Marija" schrieb. Ein perfekt komponiertes Meisterwerk, in dem wenige knappe Dialoge genügen, um ein Leben, das Porträt einer Epoche und wie nebenbei noch einen hochidealistischen Kunstbegriff zu umreißen.
    Reed Gračev wurde 1935 geboren. Den Vater lernt er nie kennen, Mutter und Großmutter verhungern im belagerten Leningrad, der Junge überlebt in Kinderheimen. 1953 kehrt er nach Leningrad zurück. Gračev studiert, beginnt zu schreiben und lernt bald andere junge Nonkonformisten kennen: Dichter, Schriftsteller, Musiker, junge Bohemians aller Art, die die neuen Freiheiten der Tauwetter-Ära nach Kräften zu nutzen suchen. Zum ersten Mal seit den späten 20er Jahren entsteht in Leningrad wieder eine künstlerische Bohème, die sich nicht vor den Behörden verstecken muss. Aber wenn der Staat die jungen Wilden auch weniger streng kontrolliert und sanktioniert als noch unter Stalin, die Macht, beiläufig Karrieren und Biografien zu zerstören, hat er behalten. Jahrelang kämpfen Gračev und seine namhaften Befürworter um die Veröffentlichung eines ersten Erzählungsbandes. Doch die Zensurbehörde verzögert und kritisiert, lehnt einige Erzählungen ab, verlangt in anderen Änderungen und treibt den in großer Armut lebenden Gračev nach und nach in den körperlichen und geistigen Zusammenbruch. Nachlesen lässt sich dieses Schandkapitel der russischen Literaturgeschichte in Brigitte van Kanns klugem Nachwort zum vorliegenden Band.
    Große humanistische Kunst
    So brutal die Zensoren vorgingen, so genau war offenbar ihr Gespür für das gefährlich Neue in Erzählungen wie "Der Zahn tut weh", "Disput über das Glück", "Unter Verdacht" oder "Tomaten". Wie Gračev das trostlose Leben kleiner Leute in der Provinz beschrieb, wie er eine von Krieg und Armut atomisierte Gesellschaft ohne Bindung, Wärme und Menschlichkeit zeigte - man konnte das auch schon damals als große humanistische Kunst erkennen. Raymond Carver hat viel später Ähnliches für die amerikanische Provinz geschaffen. Brodskij und andere Zeitgenossen erkannten Gračevs großes Talent. Die Zensoren sahen die Kunst vielleicht auch, vor allem aber sahen sie eine Bedrohung. Gračevs spartanische Portraits orientierungsloser, einsamer Heimkinder, erfolgloser Tomatenhändler und vom Leben gezeichneter Verkäuferinnen - sie waren schlicht zu ehrlich für eine verlogene Gesellschaft wie die sowjetische.
    "Marija räumt, ächzend, die Kiste unter die Theke, richtet sich auf, verschränkt die Arme über der Brust, und steht, den Kopf zurückgelegt, und blickt mit feuchten Augen geradeaus." (Aus: Gračev, "Tomaten") Als Reed Gračev Debut 1967 doch noch erscheinen darf, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, ist es zu spät. Gračev ist schwerkrank und wird es für den Rest seines mühseligen, unglücklichen Lebens bleiben. In den 90er-Jahren erlebt er die erste Veröffentlichung seines Werkes in Russland. Dazu gehören neben den jetzt auf Deutsch vorliegenden Erzählungen auch Gedichte, Essays und Übersetzungen. 2004 starb Reed Gracev. Erzählungen hat er seit den 60er-Jahren nie wieder geschrieben.