Dienstag, 23. April 2024

Archiv

Tommy Orange: „Dort dort“
Der lange Schatten der Toten

Wie die Nachfahren der nordamerikanischen Ureinwohner heute leben, war in der US-Literatur lange kein Thema. Tommy Orange, der 1982 geborene Sohn eines Cheyenne, zeigt in seinem preisgekrönten Roman: Der Völkermord an den sogenannten Indianern ist für viele Native Americans immer noch präsent.

Von Eberhard Falcke | 29.01.2020
Buchcover: Tommy Orange: „Dort dort“
Tommy Orange erzählt von der schwierigen Identitätssuche heutiger Nachfahren der amerikanischen Ureinwohner (Buchcover: Hanser Berlin Verlag, Foto:Oranus Mahmoodi /Holger Meyer)
Wer dieses Buch aufschlägt, wird mit Themen, Vorgängen und Lebensläufen konfrontiert, für deren Verarbeitung ein gemütlicher Leseabend nicht ausreicht. In seinem Roman "Dort dort" erzählt Tommy Orange von den nach wie vor spürbaren Folgen der Entdeckung und Eroberung der Neuen Welt für indigene Amerikaner, die sich selbst oftmals schlichtweg Indianer nennen. Doch bevor das Erzählen von der Gegenwart beginnen kann, erinnert der Autor an die Vergangenheit.
Die Massaker der Vergangenheit
"Manche von uns wuchsen mit Geschichten über Massaker auf. Geschichten darüber, was mit unserem Volk vor nicht allzu langer Zeit passiert war. Was das für uns bedeutete. Sie töteten uns nicht bloß. Sie zerrissen uns. Verstümmelten uns. Dann nahmen sie unsere Leichenteile als Trophäen mit und stellten sie in Denver auf einer Bühne aus."
So schreibt Tommy Orange nicht ohne Sarkasmus im Prolog seines Debütromans. Die Drastik dieser Schilderung hat ihre Berechtigung. Schließlich war der amerikanische Traum der europäischen Kolonisten und Einwanderer ja direkt mit der traumatischen Auslöschung der indigenen Lebenswelt verbunden. In diesem Prolog wird auch erklärt, wie in den 1940er bis 60er Jahren mit den Maßnahmen der "Indian Termination Policy" die Assimilierung der Indianer vorangetrieben werden sollte, unter anderem durch die Ansiedlung in Städten.
Tatsächlich leben die meisten der Protagonisten des Romans, deren Lebenslinien allesamt miteinander verbunden sind, in Oakland, der Nachbarstadt von San Francisco, also dort, wo auch ihr Autor aufgewachsen ist. Tony Loneman zum Beispiel. Sein Gesicht ist durch ein fetales Alkoholsyndrom entstellt, weil seine Mutter während der Schwangerschaft getrunken hat. Inzwischen handelt er als kleiner Straßendealer mit Drogen und plant mit seinen Kumpanen den Raub des Preisgeldes beim Big Oakland Powwow, einem traditionellen indianischen Tanzfest.
Die Helden nennen sich selbst "urbane Indianer"
Dene Oxendene dagegen will Filme drehen. Er bewirbt sich um ein Stipendium, das er auch erhält. Sein Projekt ist es, die Indigenen aus Oakland vor die Kamera zu holen, damit sie von ihrem Leben erzählen und zwar aus ihrer ganz eigenen Sicht, ohne die Indianerbilder, die ihnen gemeinhin von außen zugeschrieben werden.
"Die Geschichte der urbanen Indianer haben wir noch nicht gesehen. Und alles, was wir schon gesehen haben, ist voll von Klischees. Es sieht erbärmlich aus, und das verbreiten wir weiter, aber das macht mich wütend, denn die einzelnen Menschen und ihre Geschichten sind weder erbärmlich noch bemitleidenswert, denn sie zeigen wahre Leidenschaft und Wut."
Ganz ähnlich ist der Ansatz, den Tommy Orange in seinem Roman gewählt hat: Er porträtiert seine Figuren nicht als traurige Beispiele für die Minderheitenfürsorge, sondern als vielschichtige Menschen, die versuchen ihr Leben zu führen, und sei es auch im Bann der historischen Stigmatisierung, mit der sie noch immer zu kämpfen haben.
Opal Viola Victoria Bear Shield berichtet rückblickend von der Besetzung der stillgelegten Gefängnisinsel Alcatraz, mit der um 1970 Stammesangehörige Ansprüche auf die Rückgabe ihres einstigen Territoriums angemeldet hatten. Auf Alcatraz wurde Opals Schwester Jacquie Red Feather im Teenageralter von einem gewissen Harvey geschwängert. Später wird Jacquie Drogenberaterin und muss sich außerdem um die hohen Suizidquoten unter indianischen Jugendlichen kümmern.
Roman mit sozialkritischem Unterton
Unsentimental, ohne Idealisierungen, doch mit Anteilnahme und unüberhörbarem sozialkritischem Unterton erzählt Tommy Orange in jeweils durch die Namen bezeichneten Kapiteln von den Lebensläufen seiner zwölf Hauptfiguren, ihrem Alltag, ihrer Weltsicht, ihrem Selbstbewusstsein, ihren Verletzungen, ihren Überlebensenergien. Sie alle sind längst urbane Indianer, wie es einmal heißt.
"Die Skyline von Oakland, die Redwoods der Oakland Hills sind uns heute vertrauter als jeder heilige Bergzug. Wir kennen das Rauschen der Freeways besser als das der Flüsse. Indianer sein hat nie eine Rückkehr aufs Land bedeutet. Das Land ist überall und nirgends."
Zwischen die lebendigen, differenzierten Porträts seiner Figuren hat Tommy Orange essayistische Passagen über die Unterwerfung und Vernichtung der indigenen Völker eingeschaltet. Damit macht er deutlich, dass er, der sich selbst zu den Cheyenne- und Arapaho-Stämmen zählt, zugleich eine umfassendere Bestandsaufnahme zur heutigen Situation der American Natives anstrebt. Das unterstreicht auch der Titel seines Romans "Dort dort", den er von der Literaturavantgardistin Gertrude Stein entliehen hat: Im ursprünglichen Kontext besagt er nichts anderes, als dass es ein "Dort", wie es einmal war, nicht mehr gibt.
Tatsächlich markiert Tommy Orange mit seinem Roman den aktuellen historischen Moment, an dem seine Protagonisten die Orientierung an der Vergangenheit mitsamt aller Nostalgie und Romantisierung hinter sich gelassen haben – genauso wie die Ghettoisierung in den Reservaten: Sie sind angekommen in den durchschnittlichen sozialen Krisengebieten zwischen unterem Mittelstand und städtischem Prekariat. Edwin Black etwa leidet an Verstopfung, Fettleibigkeit und Digitalsucht. Tony Loneman und seine Kumpane basteln sich die Schusswaffen für ihren Überfall mit Hilfe von 3D-Druckern. Solche schlüssig in die Erzählung eingebetteten Aspekte von Minderheitensoziologie, die im übrigen auch für andere Stadtbewohner gelten, tun dem Roman keinerlei Abbruch. Im Gegenteil: Sie machen ihn nur noch interessanter.
Fettleibigkeit, Internetsucht, Waffenwahn
Beim Traditionsfest des Big Oakland Powwow, wo alle Figuren am Ende zusammengeführt werden, zeigt sich dann, dass die Gemeinschaft der Indigenen genauso gespalten ist, wie der Rest der US-amerikanischen Gesellschaft. Denn für viele indianisch-stämmige Festteilnehmer sind die zusammen-gestoppelten Indianerkostüme, kaum noch mehr als ein Mummenschanz. Vor allem aber eskaliert der von Tony Loneman geplante Raubüberfall auf die Festivalkasse zum Gemetzel. Die amerikanische Waffenkrankheit tobt, so beschreibt es Tommy Orange, auf dem rituellen Tanzplatz der Indianer genauso wie überall sonst in den Vereinigten Staaten.
"Dort dort" ist ein starker, vielschichtiger Roman über die heutigen Nachfahren der nordamerikanischen Indianer. Er hält ausgezeichnet die Balance zwischen sozialkritischer Anklage und nüchterner Bestandsaufnahme. Und er beschreibt sehr anschaulich, was es bedeutet, nach einer sozialen und ethnischen Identität zu suchen, wenn dafür kaum noch greifbare Grundlagen vorhanden sind.
Tommy Orange: "Dort dort"
Aus dem Englischen von Hannes Meyer
Hanser Berlin Verlag, Berlin. 288 Seiten, 22 Euro.