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Tommy Wieringa: "Santa Rita"
Lethargie und Alltag

Der Niederländer Tommy Wieringa wendet sich gern den Außenseitern zu, den aussichtslosen Fällen. In seinem neuen, hochaktuellen Roman "Santa Rita" lernen wir einige von ihnen kennen. Und erfahren, wie es ist, in einer "abgehängten" Region zu leben, in der Fremde eine Bedrohung darstellen.

Von Ulrich Rüdenauer | 13.09.2019
Der niederländische Schriftsteller Tommy Wieringa im Mai 2016
Tommy Wieringa - von Publikum und Kritik gleichermaßen geschätzt (imago / Leemage)
"Provinz ist, wo ich bin" – das war einmal ein beliebter, selbstironischer Postkartenspruch. Paul Krüzen und sein Vater Alois sind über Ironie allerdings schon lange hinweg. Auf die beiden trifft der Satz passgenau zu. Sie leben auf dem niederländischen Land. Kommen sie einmal heraus aus ihrer Gegend, befällt sie spätestens nach drei Tagen das Heimweh – so ist es Alois sogar bei seiner Hochzeitsreise ergangen. Und wenn Paul mit seinem besten Freund Hedwiges für zwei Wochen nach Thailand reist oder in ein anderes Land, das von alleinstehenden Männern gerne aufgesucht wird, ergeht es ihm nicht anders. Pauls Vater kommt allerdings gar nicht mehr raus aus seinem Haus, selbst wenn er wollte. Er ist inzwischen ein Pflegefall. Seine Frau hat sich vor vielen Jahren mit einem aus der Sowjetunion geflüchteten Piloten aus dem Staub gemacht – mit einem "Iwan", würde er sagen. Paul war damals acht. Die Männer-WG hat sich so erzwungenermaßen über die Jahre eingespielt, nur dass sich inzwischen nicht mehr der Vater um den Sohn kümmert, sondern umgekehrt. Der fast 50-jährige Paul verdient sein Geld mit Militaria, Restbeständen der NVA und Reliquien aus dem Dritten Reich. Filmausstatter sind seine Kunden. Aber auch Fetischisten. Und natürlich handfeste Neonazis. Paul stört das nicht sonderlich. Da, wo er mit seinem Vater lebt, darf man nicht so wählerisch sein.
Strukturelle Ähnlichkeit zu abgehängten Orten in Ostdeutschland
Mariënveen heißt der Ort, gelegen unweit der Grenze zu Deutschland. Vom liberalen, multikulturellen Amsterdam ist das so weit weg wie beispielsweise das kleine Hirschfeld in Sachsen von Berlin – das ist das idyllische Dorf, in dem die AfD bei der Landtagswahl kürzlich 50,6 Prozent der Stimmen erhalten hat. Es gibt gewisse strukturelle Ähnlichkeiten zwischen solchen Städtchen, die am Rande des Geschehens liegen und sich gerne selbst als abgehängt bezeichnen. Zwar lassen sich dort kaum Ausländer blicken, aber schuld sind die doch an der Misere. Der Iwan, die Polen und Rumänen hier, die Flüchtlinge dort. Man neigt in diesen aussterbenden Regionen eher zum Konservatismus, vorsichtig ausgedrückt.
Ein paar Chinesen leben allerdings schon in Mariënveen, seit ein paar Jahren betreiben sie ein Lokal am Ort. Jeder geht dort hin. Aber keiner würde die Zugezogenen vermissen, wenn sie wieder verschwänden. Bis auf Paul. Und sein Freund Hedwiges mit seiner seltsamen Kopfstimme vielleicht, der den alten Tante-Emma-Laden seiner Eltern weiterführt, obwohl alle längst im Supermarkt einkaufen gehen. Der Fortschritt macht eben auch vor diesem Niemandsland nicht Halt. Ein paar Indizien weisen darauf hin: Bremsschwellen auf der Straße sollen den Rasern Vernunft beibringen; der Pfarrer kommt aus Brasilien – inzwischen müssen die ehemals Missionierten die alten Gemeinden in Europa missionieren, weil der Nachwuchs fehlt. Den Bankautomat hat man allerdings wieder abgeschafft – lohnte sich nicht. Die Jahre zehren hier ein bisschen mehr an den Menschen als anderswo, an Hedwiges ebenso wie an dem Erzähler Paul und seinem Vater.
"Wer uns sieht, dachte er, kann sich nicht vorstellen, wie es früher war. Er konnte es sich selbst kaum noch vorstellen. In gewisser Hinsicht war alles beim Alten, zwei Männer in einem Haus und ein halbes, lautlos verstrichenes Jahrhundert, doch bei einem anderen Lichteinfall war nichts mehr wie früher."
Der Fremde steht unter Verdacht
Es ist diese Spannung zwischen einer das Gemüt beruhigenden und zugleich einschläfernden Ereignislosigkeit und dem Einbruch des bedrohlich Fremden, die Tommy Wieringa in seinem neuen Roman "Santa Rita" mit großer Sensibilität und minutiöser Beobachtungsgabe zum Thema macht. Wieringa, selbst in so einer Gegend aufgewachsen und dort lebend, hat in seinen Büchern schon öfter von im wahrsten Sinne des Wortes am Rande beheimateten Figuren erzählt. Manche stehen sogar am Abgrund. Dass er mit Empathie von ihnen spricht, bewahrt ihn davor, seine Schmalspurhelden zu Karikaturen werden zu lassen. Denn tatsächlich wachsen einem Paul, Hedwiges oder der Snackbar-Betreiber Baptist, der eines Tages unerwartet zu einer chinesischen Familie kommt, unversehens ans Herz – obwohl sie alle von einer immensen Müdigkeit befallen sind, ihrem gleichförmigen Alltag keinen Widerstand entgegensetzen und nicht unbedingt eine Welt verkörpern, die man als kosmopolitisch und liberal gesinnter Mensch gerne überall vorfinden würde. Das Fremde steht immer in Verdacht, gefährlich zu sein; der Fremde erscheint hier meist in Gestalt des Diebes, Entführers, Drogenhändlers, ganz egal, was er tut.
"Die Abschaffung der europäischen Binnengrenzen hatte nicht nur den Freihandel gebracht, sondern auch solchen Scheiß. Willemstad, Hamburg, Mariënveen – da kam man nicht mehr mit."
Wer nicht mehr mitkommt, resigniert oder begehrt auf. Je unübersichtlicher die Weltlage wird, je undurchschaubarer politische Entscheidungsprozesse, je intensiver das Gefühl des Abseitsstehens, desto stärker grummelt es in der Volksseele und desto lauter rumort es an den Rändern der Wohlstandsgesellschaft. Meist richtet sich die Wut dann nicht gegen Strukturen und gegen ein ungerechtes Wirtschaftssystem – sondern eben gegen andere Menschen.
Die ländliche Welt verschwindet
Die ländliche Welt verschwinde, die Behörden hätten die Bewohner vergessen, die Polizei sehe man nur am Freitag bei der Alkoholkontrolle – das berichtete Tommy Wieringa kürzlich bei einem literarischen Dinner mit dem niederländischen Königspaar Willem-Alexander und Máxima im brandenburgischen Werder. Diese Empfindung teilen seine Figuren. Nach einem Überfall auf Hedwiges nimmt die Unsicherheit weiter zu. Paul glaubt, dass ein Russe und der zwielichtige Schulkamerad Steggink, der hinter der Grenze ein Bordell betreibt, dahinterstecken. Im Puff waren Paul und Hedwiges Stammgäste. Und Hedwiges hatte einmal damit geprahlt, so viele Ersparnisse zu haben, dass er inzwischen Millionär sei. Ein kurzer Moment der Aufmerksamkeit war ihm da sicher – auch wenn an der Geschichte nichts stimmte. Bei dem Einbruch werden Hedwiges 80.000 Euro gestohlen, das ist alles, was er zur Alterssicherung im Sparstrumpf hatte. Und er wird böse zugerichtet, von seinen Peinigern auf brutale Weise malträtiert. Nun ist die Gewalt nicht mehr nur abstrakt.
"In der Wärme am frühen Abend hackte Paul Holz, das Halfter und seine Trainingsjacke hatte er an einen Ast gehängt. Er fühlte sich schwach. Erstaunlich, dachte er, wie schnell man sich daran gewöhnt, auf Gewalt gefasst zu sein. Er lebte wie ein Hase, die Nase in die Luft gereckt; überall waren Schatten und Bedrohung."
Enges Beziehungsgeflecht zwischen den Figuren
Tommy Wieringa lässt zwischen seinen Figuren ein enges Beziehungsgeflecht entstehen. Es ist da – unausgesprochen zwar, aber doch wunderbar erzählt – eine Zärtlichkeit, die anrührt, weil sie der Härte des Lebens abgetrotzt ist und der Einsamkeit. Eigentlich gestattet sie sich nie einen Ausdruck, höchstens indirekt. Bei einer ihrer Reisen schenkt Hedwiges seinem Freund Paul ein Medaillon der heiligen Rita, das er an einem Straßenstand gekauft hat: ein Bildnis mit Rosen, einem Weinstock und den Worten "Heilige Rita, bete für uns". Paul erwirbt einen weiteren dieser Anhänger und bringt ihn Rita mit, einer Prostituierten, die in Stegginks Etablissement arbeitet und mit der Paul oft aufs Zimmer geht, in die er vielleicht sogar verliebt ist, ohne es sich einzugestehen.
"Die heilige Rita war nicht nur die Retterin der aussichtslosen Fälle, sondern auch die von unfruchtbaren Frauen und Frauen in einer schlechten Ehe, von Fleischern und Fleischhändlern."
Rita legt das Medaillon ihrer Namenspatronin nie mehr ab. Und der gläubige Paul weiß vermutlich, dass sie alle eine Retterin brauchen könnten in ihrem aussichtslosen Dahinleben. Auf der anderen Seite aber ist da bei Paul auch ein heiliger Zorn, und die Gewalt, die um ihn herum zuzunehmen scheint, lässt in ihm das Gefühl aufkommen, als Rachegott auftreten zu müssen. Tommy Wieringa, der seinem Helden eine Geschichte gibt, eine Vergangenheit, die sich immer wieder in die Gegenwart schiebt, lässt am Ende offen, was geschehen wird: ob es zu einer Explosion kommt oder zu einer Kapitulation oder zu irgendetwas dazwischen. Er macht mit seinem Roman allerdings klar, dass man nicht auf die Resignation der so genannten abgehängten Provinzler bauen sollte. Da brodelt etwas, das Rechtspopulisten und rechtsextreme Parteien wie Aasgeier schon längst erspüren und ausbeuten. Und das vielleicht irgendwann in radikalerer Form ausbrechen wird.
Tommy Wieringa: "Santa Rita"
Aus dem Niederländischen von Bettina Bach
Carl Hanser Verlag, München
288 Seiten. 22,- Euro