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Ton aus!

Der Roman "Stille in Montparnasse" des französischen Autors Ariel Denis ist ein großes Klagelied auf die zeitgenössische Musik. Doch die Kritik am Musikalischen ist nur Vorwand für eine Kritik an der zur Durchschnittlichkeit verkommenen Kultur. Über diese hinauszukommen, vermag Denis mit einer eigenen Musikalität der Sprache.

Von Martin Ebel | 03.08.2007
    Hermann Prey, der das Lied "Mit Deinen blauen Augen" von Richard Strauss singt, ist ein Gott für den Erzähler. Ein Gott des Gesangs, der ja für die Verbindung des Menschen mit dem Himmel sorgt. Der Ich-Erzähler stellt Prey sogar noch über Dietrich Fischer-Dieskau, diesen enzyklopädischen Sänger, der mit seinen intelligenten Interpretationen dem Kunstlied neue Dimensionen erschlossen hat. Aber Prey - das ist die Unschuld, die Natürlichkeit, es ist die Musik selbst; dieser Sänger macht, so schwärmt der Erzähler weiter, "das metaphysische und sentimentale Wesen der Musik hörbar".

    Ja, um große Worte ist er nicht verlegen, der Musikenthusiast im Roman "Stille in Montparnasse" von Ariel Denis. Zweifel kennt er keine, seine Wertmaßstäbe sind unverrückbar: Hier das Gute, da das Schlechte, hier die wahre, die richtige Musik, dort der allgegenwärtig Lärm, worunter nicht nur Autohupen und Sirenen, kreischende Straßenbahnen und Baumaschinengeräusche fallen, sondern alles, was aus Lautsprechern kommt und unverschämterweise ebenfalls beansprucht, als Musik zu gelten. Der universelle Pop unserer Tage löst beim Erzähler Wut- und Hasswellen aus, und die lässt er in Form unablässiger Invektiven und mächtiger Satzperioden auf den Leser zurückrollen. Das klingt dann so:

    ""Und jetzt Ruhe, ihr Mikrofonlutscher, Heulbojen aus den Tonstudios, ihr faden Wisperer, Playbacksänger, ihr Bercy-Großkonzertpilger, ihr Kreativ-DJs für hippe Analphabeten und abgedrehte Snobs durchgemachter Nächte, ihr abgewrackten Rocker, ihr abgerissenen Rapper, ihr geblufften Bluffer, Kuschelmusiksänger ohne jeden Charme und ihr vollgedröhnten stimmlosen Woodstockschreihälse, ihr Hitparadensieger von Radio-Kakerlake...""

    Und so weiter und so weiter.

    Die "weltumspannende abscheuliche Musik", die "Diskothekenmusik" ist für den Ich-Erzähler das eigentliche Übel unser Zeit, ihr Siegeszug ab 1960 der wahre Sündenfall des modernen Menschen. Manchmal fragt er sich, ob nicht schon der Eintritt in das Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Anfang vom Ende war. Denn seit man nur eine Platte auflegen, eine CD einschieben oder das Radio anschalten muss, um die gewünschten Töne zu hören, ist die Musik verfügbar geworden, der Hörer dafür zerstreut. Zerstreute Wahrnehmung, da ist der Erzähler strenger noch als der strenge Adorno, bedeutet aber Verrat an der Musik. Und diesem Verrat, so ein geschichtsphilosophischer Exkurs, folgte die Strafe auf dem Fuß: Die Musik entzog sich ihrer universellen Verfügbarkeit durch die Technik, indem sie sich selbst gegenüber dem Hörer verschloss. Sie wählte die Dissonanz, die Atonalität, die Zwölftontechnik, und machte sich damit unzugänglich. Die Musica viva als Strafe für unaufmerksames Hören: Eine originelle, ein bisschen absurde These, über die sich die Komponisten unserer Tage sicher sehr freuen werden.

    Aber sind die Thesen des Ich-Erzählers überhaupt ernst zu nehmen, sind sie der Kern von Ariel Denis' schmalem Roman? Natürlich nicht. Dem französischen Autor, der 1945 in Lyon geboren wurde und Kulturwissenschaften an der Kunstakademie von Angers lehrt, geht es zum einen um eine Haltung der Unbedingtheit. Der Ich-Erzähler ist ein großer Unzeitgemäßer, er weiß das, und er genießt das auch. Sein einziger Gesprächspartner ist ein Schweizer Großbürgerssohn namens Markus Berger, ein begabter Sänger, der aber die aussichtsreiche Karriere aufgab, als ihm klar wurde, dass er nie zur absoluten Spitze gehören würde, und der stattdessen in ein Ingenieurbüro eintrat. Dort leistet er Besonderes, sein Meisterstück ist ein Lautsprecherensemble namens "XXX", dessen Preis leicht über dem Budget eines kleinen afrikanischen Staates liegt. Natürlich verfügt der Erzähler über diese Boxen, aus ihnen lässt er allabendlich Hermann Preys Stimme erklingen - ganz ohne Technik geht es nach dem Tod des Sängers dann doch nicht.

    Berger und der Erzähler verbringen "musikalische Diners" miteinander, meist in der Brasserie Orfeo in Paris, und bestätigen sich wechselseitig in der Verkommenheit einer Welt, in der durch die Beschallung mit Unmusik die wahre Musik unhörbar geworden ist. Daraus wächst eine Kulturkritik, die bei allem Snobismus und aller hochfahrenden Pose etwas wesentliches trifft. Dass die U-Musik (von der er nur französische Chansons und alte Hollywoodmusicals gelten lässt) heute nicht nur die E-Musik (um einmal Begriffe zu verwenden, die schon fast verpönt sind) mehr und mehr verdrängt, sondern auch noch beansprucht, ihr gleichgestellt zu werden; dass der zweitklassige Künstler und der Journalist die Repräsentanten unserer Epoche sind; dass der Sport eine Form der Massenhypnose und Massenmanipulation darstellt: Das kann im Zeitalter der Quote und einer Permissivität, die sich als Toleranz und ästhetische Weitherzigkeit tarnt, wohl nur noch eine Romanfigur offen aussprechen.

    Was die manchmal unsägliche Arroganz dieser Figur aber erträglich, ja sogar liebenswert macht, ist ihre Sprache. Ariel Denis versucht nämlich, selbst Musik zu machen - nicht wie die Dichter durch Fusion von Klang und Sinn, sondern auf der Ebene der Syntax. Seine Sätze strömen dahin wie Melodien, die Themen kehren wieder wie Motive, der Rhythmus verführt fast dazu, beim Lesen mit den Füßen mitzuwippen. Die Sprache klingt - und dazu trägt auch die sensible Übersetzung von Regine Hermannsdörfer bei.

    "Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum": Diesen Nietzsche-Satz zitiert der Erzähler mehrfach und gibt ihm schließlich den Zusatz: "Doch mit zuviel Musik wird das Leben zur Hölle." Sprachmusik à la Ariel Denis, die die Stille nicht stört, wäre da eine elegante Lösung. Doch auch Denis' Literatur führt schließlich zur Musik zurück. Dem Buch ist eine Mini-CD mit drei Liedern des unvergleichlichen Hermann Prey beigelegt. Und eines davon ist ein richtiges Kaffeehauslied: "Im Café de la Paix in Paris".


    Ariel Denis: Stille in Montparnasse
    Ein Romanbericht. Aus dem Französischen von Regine Herrmannsdörfer.
    Atrium Verlag, Zürich 2007
    142 Seiten, 17,90 Euro, mit Mini-CD