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Topos und Vielfalt

Die Vielfalt ihrer Topoi lässt diese Autorin für Leser, Kritik und den Buchmarkt als schwierigen Fall erscheinen; man weiß nicht, wo man sie einordnen soll. Mal spiegelt sie das leidlich zuschanden geschriebene Berliner Szenemilieu wider, mal ironisiert sie die Form des Science-Fictions, dann karikiert sie den Schwulst historischer Romane wie in der titelgebenden Erzählung "Kavaliersdelikt".

Von Florian Felix Weyh | 25.11.2004
    Dass ein zeitgenössischer Jungpolitiker Eingang in einen literarischen Text findet, ist ein eher seltenes Phänomen. Zwei Bedingungen müssen dafür erfüllt sein: Der Text hegt satirische Absichten, und der Politiker verkörpert eine Geisteshaltung, die über einen kurz aufflackernden Slogan hinausgeht. Bei Philipp Mißfelder, dem Vorsitzenden der Jungen Union, ist das wohl so. Seit er Achtzigjährigen das Recht auf teure Hüft-OPs streitig machen wollte, gilt er als Frontmann des forcierten Generationenkampfs. Als solcher taucht er bei Anna Katharina Hahn in einer Kurzgeschichte auf, wenngleich nur als Namenspatron: Der "Philipp-Mißfelder-Stiftung" für kriminelle und verhaltensauffällige Senioren wird sich in Zukunft ein reiches Arbeitsfeld öffnen. Statt marodierender Jugendbanden treiben ums Jahr 2050 dann Seniorengangs ihr räuberisches Unwesen, immer auf der Suche nach Nahrung, Medikamenten und Drogen. Wer geschnappt wird, kommt ins Mißfelder-Heim zur Umerziehung.

    Unschöne Aussichten, schräg erzählt! Unter den Autorinnen ihrer Generation ist Anna Katharina Hahn, Jahrgang 1970, trotz verlegerischer Heimat bei Suhrkamp weitgehend unbekannt geblieben. Über die Gründe gibt der neue Erzählungsband Auskunft. Keine literarischen, denn diese Autorin kann durchaus etwas. Mit Kerzen- oder Petroleumlicht, jedenfalls unter düster-flackernder Beleuchtung, begibt sie sich in an die verschiedensten Orte und fördert dort groteske Abgründe zutage. Ein bisschen unheimlich und schauerlich sind alle acht Geschichten. Nicht nur unheimlich jedoch – auch uneinheitlich!

    Die Vielfalt ihrer Topoi lässt diese Autorin für Leser, Kritik und den Buchmarkt als schwierigen Fall erscheinen; man weiß nicht, wo man sie einordnen soll. Mal spiegelt sie das leidlich zuschanden geschriebene Berliner Szenemilieu wider, mal ironisiert sie die Form des Science-Fictions, dann karikiert sie den Schwulst historischer Romane wie in der titelgebenden Erzählung "Kavaliersdelikt". Darin wird eine Mittelalterforscherin aus der knochentrockenen Umgebung ihres Instituts mitten hinein in die historische Originalszenerie katapultiert. Von Zärtlichkeit unter Rittern kann allerdings keine Rede sein. Rau und ungesittet geht es zur Sache, vulgo: zur Vergewaltigung. Die überlieferten Minneverse sind reine Fiktion, und der Einbruch des Phantastischen ist in Wirklichkeit ein Einbruch der Realität in den Elfenbeinturm der Akademiker.

    Das liest sich hübsch, zeigt aber mehr technisches Können als persönliches Talent. Erst ein weiterer Strang des Bändchens deutet auf eine spezifische Stärke der Autorin hin. Zwei Geschichten nämlich spielen im Schwäbischen, wo Anna Katharina Hahn lebt und arbeitet. Unter der Oberfläche geschäftstüchtiger Effizienz und bürgerlicher Gemütlichkeit brodelt eine gefährliche Mixtur aus Verlogenheit und Heimtücke. Diese Kehrseite des süddeutschen Erfolgsmodells ist viel interessanter als die geläufige Schilderung von Dauerstudenten und Szenekneipenabhängern in der Hauptstadt.

    Man wünschte, Anna Katharina Hahn würde ganz auf diesen in der Nähe liegenden Stoff fokussieren, denn als Erzählmodell verlockt sie die Metropole eher zum Klischee, während ihr die Provinz feine Nuancierungen erlaubt. Hier kippt das Groteske in schieren Alltagshorror um, wenn etwa in der ersten Geschichte ein während der Nazizeit aufgegebenes Albdorf – es musste einem Truppenübungsplatz weichen –, zum jährlichen Pilgerziel von Grabpflegern wird. Bruchlos tut sich die Kontinuität einer in ihrer Leistungsethik gnadenlosen Gesellschaft auf. Auch Euthanasieopfer liegen hier begraben, ihnen windet man freilich keine Kränze. Denn wer weiß ... vielleicht war der Gedanke damals nur zu voreilig und kehrt dereinst in anderer Gestalt wieder, siehe Mißfelder-Stiftung! So schließt sich der Kreis zwischen Vergangenheit und Zukunft, und Anna Katharina Hahn sorgt dafür, dass die Wunde offen bleibt.

    Anna Katharina Hahn
    Kavaliersdelikt
    Suhrkamp, 137 S., EUR 7,–