Mittwoch, 24. April 2024

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Tor Ulven: „Ablösung“
Bewusstseinszustände, abschattiert

Der früh aus dem Leben geschiedene norwegische Autor Tor Ulven hat dem Leid in seinen Erzählungen und Essays eine faszinierende Form gegeben. Auch sein einziger Roman „Ablösung“ spielt in verschiedenen, mal heller, mal dunkler illuminierten Szenen die Ängste und die Einsamkeit seiner Figuren durch.

Von Ulrich Rüdenauer | 02.01.2020
Auch im Sommer liegt in der Finnmark, im Norden Norwegens, noch Schnee auf den Wiesen und Bächen.
Die Endlichkeit des Seins (Ingrid Norbu)
In seinem einzigen Interview hatte der norwegische Schriftsteller Tor Ulven eine Warnung versteckt, die zugleich für seine Leser eine Verlockung darstellte:
"ich bin aus prinzipiellen Gründen daran interessiert, unhöfliche Bücher zu schreiben. Bücher, die den Leser beunruhigen, vielleicht sogar quälen. Das gebe ich zu. Es gibt so viele Orte, wo man Balsam und Heilung für all seinen Kummer bekommen kann. Mit dem, was ich schreibe, möchte ich auf das Unangenehme der Existenz insistieren. Es ist schon genug Morphin in Umlauf."
Ulven hat sich offensichtlich von stimmungsaufhellenden Opiaten ferngehalten, von allen Formen der Beruhigung oder Sedierung. Er hat das ihn Quälende in Geschichten und Essays verwandelt, und als das nicht mehr ging, hat er seinem Leben mit nur 41 Jahren ein Ende gesetzt. 1995 war das. Zwei Jahre zuvor war sein einziger, schmaler Roman "Ablösung" erschienen. Wer unter einem Roman ein Buch versteht, in dem eine Geschichte mit Anfang und Ende erzählt wird, Protagonisten stringente Handlungen vollziehen oder überhaupt etwas passiert, das sich rekapitulieren ließe, der dürfte schrecklich enttäuscht sein von "Ablösung". Wer sich hingegen auf ein Abenteuer sprachlicher und gedanklicher Art einlassen will, der wird mit Tor Ulven einen bemerkenswerten Autor entdecken können.
"Zum Beispiel ein Apfelgehäuse oder ein x-beliebiges Obst oder Gemüse, das am Verrotten ist, es runzelt, verformt sich und schrumpelt, so wie der menschliche Körper mit fortschreitendem Alter sich runzelt, verformt und immer mehr einschrumpelt, als wenn das kleinste gemeinsame Vielfache für Obst (oder Gemüse) und Menschen gleichsam nur im Verfall zum Vorschein käme, denkt er."
Der Endlichkeit ins Auge blicken
Der dieses barocke Vanitas-Bild im Kopf trägt, hat keinen Namen. Man weiß kaum etwas über ihn. Er ist einer von insgesamt 15 Figuren verschiedenen Alters, die an ihren Erinnerungen und Lebensumständen leiden und ihrer Verzweiflung mit offenem Visier begegnen, mithin ihrer Endlichkeit ins Auge blicken. Figuren allerdings ist schon zu viel gesagt. Die norwegische Kritikerin Christina Hesselholdt hat nicht von sich unterscheidenden Charakteren gesprochen, sondern von 15 Bewusstseinszuständen. In der Tat ist kaum auszumachen, ob es sich um eine einzige Person in verschiedenen Lebensphasen handelt oder um Abspaltungen, Möglichkeiten, Ausprägungen eines Individuums, um denkende Schemen.
Oder doch um unterschiedliche Menschen. Jedenfalls lösen sich die einzelnen Jungen und Männer immer wieder auf, gehen in einen anderen Zustand über – lauter Ablösungen. Es sei so, sagte Ulven, als würden die Figuren immerzu neu geboren werden, aber in dasselbe Elend, dieselbe Monotonie hinein. Es verwundert dabei nicht, dass es sich um Versehrte handelt, am Herzen, an der Seele oder am Körper kranke Anti-Helden, Verlassene und Gebrochene, Blinde und Behinderte. Sie alle reflektieren ihre Situation, und bleiben doch im Vagen. Sie sind Stellvertreter des Leids, am Leben zu sein – ein Leben, in dem die Vergänglichkeit den Takt vorgibt, die Melancholie die Melodie, die Vergeblichkeit den Rhythmus:
"Nicht der Gedanke an den Tod. Nein, das ist nicht, was dich einen Schmerz empfinden lässt immer im Frühling, ein Eishauch wie beim Wassertrinken nach dem Verzehr von Kampferdrops, es ist vielleicht nicht einmal Schmerz, sondern Trauer, Verzweiflung, über was?, denkst du, und denkst weiter: über ungelebtes Leben; nicht Gram oder die Angst, dass du in einer gewissen Zeit überhaupt nichts mehr erleben wirst (der Tod erschreckt dich, je älter du wirst, immer weniger), sondern das nagende Gefühl, nichts erlebt zu haben, kein wirkliches Leben gehabt zu haben und, noch schlimmer, dass es für ein Erleben zu spät ist, oder eher vielleicht, dass das, was du erlebt haben wolltest, etwas ganz anderes war, als was dir tatsächlich widerfahren ist, dass dir etwas entgangen ist, ohne dass du sagen könntest, was es war, dass es jetzt zu spät ist und dein ganzes Leben gewissermaßen vergeudet war, der Versuch eines Blinde-Kuh-Spiels, der erfolglos geblieben ist."
Unheil verkündendes Zittern
Die Sprache verändert sich in den sich ablösenden Passagen nicht, die Übergänge werden durch sie nicht markiert. Über ihr Sprechen erhalten die Figuren nichts Eigenes. Ob es ein greiser Mann ist, ein Junge, der sich von zu Hause weggeschlichen hat, ein anderer Junge, der eine Operation überstanden hat, ein Nachtwächter, der mit seiner Taschenlampe einem verdächtigen Geräusch nachforscht – nie kann man sicher sein, ob da nicht auch Überlagerungen stattfinden, das Bewusstsein des einen im Bewusstsein des anderen noch nachscheint oder nachhallt. Dass die Sprecher wechseln, merkt man an den Lichtverhältnissen: Die Ablösungen werden durch eine das ganze Buch überziehende Lichtmetaphorik gekennzeichnet. Eine Lichtquelle versiegt, eine andere keimt auf.
"Die Glühbirne leuchtet mit Unheil verkündendem Zittern, intermittierend, als enthielte sie keine Glühdrähte, sondern ein oder mehrere schwindelnde, hinscheidende Glühwürmchen: sie erlischt beinahe, flackert auf, zieht sich zusammen, leuchtet ein letztes Mal, hektisch flimmernd, und erlischt definitiv. Diesen Abend muss er auf das Lesen verzichten. Die Glühbirne kann er morgen wechseln."
Das Leid erhält eine Form
Die Komposition von Tor Ulvens Roman hat etwas von einem Reigen. Seine Figuren sind flirrende, kurz aufscheinende, flackernde, dann schwindende, ins Dunkel zurücktretende Gestalten. Wir bewegen uns immerzu ohne Umschweife zum Kern dieser Figuren, hinein in ihre Ängste, ihre Einsamkeit, ihr Verlassensein. Was sie zu jenen gemacht hat, die sie sind; wie oder von was sie leben, das erfahren wir nicht, können wir uns höchstens herbeifantasieren. Obwohl immer wieder Details in den Blick genommen werden, Kleinigkeiten unsere Aufmerksamkeit zu fesseln vermögen, der Keim von Geschichten gelegt wird, bleibt alles im Ungefähren. Hell und Dunkel.
Ein großes Publikum hat dieser Autor mit seinem düsteren Realismus dementsprechend nie gefunden – kein Wunder bei jemandem, der von sich behauptete, die Erzählung zugunsten der Poesie zu ignorieren. Tor Ulvens Literatur, man mag das an dieser Skizze seines Romans erahnen, hat keine Absicht, uns etwas über das Leben vorzumachen, auch wenn es durchaus Glücksmomente bergen mag: Am Ende geht es nun einmal nicht gut aus. Paradoxerweise bietet die Literatur durch ihre Gestalt einen Trost, oder um es mit Tor Ulven zu sagen:
"Im wirklichen Leben ist das Leid formlos. In der guten Literatur erhält Leid eine Form. Das ist das Entscheidende."
Tor Ulven: "Ablösung"
Aus dem Norwegischen von Bernhard Strobel.
Literaturverlag Droschl, Graz
140 Seiten, 20 Euro.