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Totalabsturz am Mount Everest

Der in Graz geborene Schriftsteller Thomas Glavinic hat sich seit den späten 1990er-Jahren mit alptraumhaft-grotesken Romanen einen Namen gemacht. Jetzt hat er ein ambitioniertes Werk vorgelegt, sich dabei aber einiger unverzeihlicher Fehler schuldig gemacht.

Von Günter Kaindlstorfer | 11.09.2013
    Der Ruf der Berge - er hat auch Thomas Glavinic ereilt, rein literarisch, versteht sich. Nun ist Glavinic keiner, der sich mit läppischen Dreitausendern zufrieden gäbe, bei ihm, einem Autor mit unübersehbarem Zug nach oben, muss es der Everest sein, der Berg der Berge. Und so hetzt der Schriftsteller seinen Protagonisten Jonas aufs Dach der Welt, ohne dass man als Leser so recht verstünde, was der Mann dort oben eigentlich sucht. Auch Jonas scheint es nicht zu wissen, und Glavinic, Jonas’ Erfinder, weiß es erst recht nicht.

    Thomas Glavinic: "Ja, ich glaube, um die Grenzen an sich geht’s ihm. Aber so ganz verstanden hab ich’s ja auch nicht. Allerdings geht’s um genau das, denn das, was er tut, ist ja in vielen Fällen sinnlos."

    Thomas Glavinic hat einen in jeder Hinsicht ausufernden Roman geschrieben: heroisches Bergsteigerepos und märchenhafter Entwicklungsroman, Reiseerzählung, Faust-Paraphrase, Gangster-Melodram und kitschtriefende Herz-Schmerz-Schmonzette. Warum so viele Rezensenten den Roman als "großes Buch" und "atemberaubende Geschichte" feiern, bleibt rätselhaft. Der von Glavinic verantwortete 500-Seiter ist von der Handlung her haarsträubend unglaubhaft und trotz des bombastischen Erzählaufwands, mit dem diese Sinnsuchersaga daherkommt, frappierend flach. Dazu kommen Sentimentalitäten und Rührseligkeiten aller Art, die man einer Rosamunde Pilcher vielleicht gerade noch durchgehen ließe, nicht aber einem vom "Spiegel" und dem Feuilleton der "Süddeutschen Zeitung" hochgelobten Autor. Das Schlimmste aber ist die schleißige Sprache, derer sich Glavinic befleißigt. Da finden sich verwackelte Bilder und stilistische Schlampigkeiten, die jedem sprachlich sensibilisierten Menschen die Haare zu Berge stehen lassen.

    Aber wovon erzählt der Autor eigentlich? Wie schon in "Die Arbeit der Nacht" und "Das Leben der Wünsche" hat Thomas Glavinic auch diesmal einen Menschen namens Jonas ins Zentrum des Geschehens gerückt, wobei die einzelnen Figuren dieses Namens, von ein paar Querverweisen abgesehen, nicht das Geringste miteinander zu tun haben. Der Jonas des neuen Buchs wächst zusammen mit seinem behinderten Zwillingsbruder Mike in zerrütteten Verhältnissen auf, der Vater tot, die Mutter Säuferin. Nachdem ein neuer Bettgespons der Mutter den Knaben halb zu Tode geprügelt hat, werden Jonas und sein Bruder von einem Mafia-Patriarchen, stinkreich und märchenhaft kinderfreundlich, adoptiert. Zusammen mit Werner, dem Sohn dieses Mafioso, verleben die Brüder eine herrlich autoritätsfreie Kindheit. Ein Dutzend Hausangestellte lesen den Halbwüchsigen jeden Wunsch von den Augen ab; die jungen Herren müssen auch nicht zur Schule: Ein Heer von Nobelpreisträgern, Olympiasiegern, Schachgenies unterrichtet sie zu Hause.

    Nach dem Tod seines mafiösen Protektors erbt Jonas ein gewaltiges Vermögen. Macht ihn das glücklich? Natürlich nicht. In manischer Unrast jettet Glavinics Protagonist um die Welt: In Malaga lernt er schweißen, in Sao Paulo massieren, in Rom schließt er sich für zwei Jahre in eine Wohnung ein, in Norwegen lässt er sich das Baumhaus seiner Träume errichten, in Tokio rettet er einen Anwalt dank seiner Kenntnisse fernöstlicher Nahkampfkunst vor der Ermordung und so weiter und so weiter. Das alles liest sich unglaublich unglaubhaft, ohne an irgendeiner Stelle poetischen Zauber zu entwickeln, und entfaltet schon nach hundert, hundertfünfzig Seiten eine unwiderstehlich fatigierende Wirkung. Vollends peinlich wird der Roman, als Glavinic seinen Helden das Wunder der Liebe entdecken lässt.

    "Er ist auf einer schmerzhaften Suche nach der großen Liebe. Und das ist eine Identifikationsmöglichkeit für uns alle. Wir alle sind doch daran interessiert, eine große Liebe zu erleben."

    Ja, schon, aber muss es wirklich eine so abziehbildhaft platte Person sein wie diese Marie, in deren Arme Glavinic seinen Helden nach langer, intensiver Liebessuche sinken lässt? Beispielhaft für Glavinics Roman in seiner ganzen überdrehten Missratenheit ist die kolportageromanhafte Kennenlern-Szene zwischen Jonas und Marie, der bestrickenden Singer-Songwriterin, an die der faustische Sinnsucher Jonas sein Herz verliert:

    "Sie stand in einem weißen Bikini auf der steinernen Plattform, von der Sportler über zwanzig Meter hinab in den Rio Santos sprangen, große, lange dunkle Haare, gebräunte Haut... ‘Weißt du, was du hier tust’, fragte er, ‘oder bist du selbstmordgefährdet?‘

    Sie wandte sich um, und nun erst sah Jonas, wie umwerfend diese Frau wirklich war. Da war etwas Geheimnisvolles in ihrem Gesicht, das er nicht zuordnen konnte. Sie war nicht perfekt, ihre Bewegungen etwa waren ungelenk, fast schüchtern, und sie ließ die Schultern hängen, aber sie hatte eine Aura von Größe, von Einzigartigkeit, er konnte es sich nicht erklären, und er hatte so etwas nie zuvor gesehen. Er war ihr verfallen, sofort."


    Zu dieser Sequenz ist mehrerlei zu sagen. Den weißen Bikini würde man Glavinic vielleicht - aber auch nur vielleicht - noch verzeihen. Die klischeehafte Beschreibung der Marieschen Reize - gebräunte Haut, lange, dunkle Haare - schon weniger. Da hätte er sich mehr anstrengen müssen. Ganz und gar unverzeihlich aber sind die sprachlichen Schludrigkeiten, die der Autor hier auf einigen wenigen Zeilen aneinanderreiht. "Da war etwas Geheimnisvolles in ihrem Gesicht, das er nicht zuordnen konnte", schreibt Glavinic. Ja, um Gottes Willen, möchte man ihm zurufen: Wenn Jonas das Geheimnisvolle zuordnen könnte, wäre es ja kein Geheimnis mehr. Zwei Zeilen drunter heißt es: "Ihre Bewegungen waren schüchtern." Das geht natürlich auch nicht: Bewegungen, ´tschuldigen schon, können nicht schüchtern sein.

    Und so finden sich in diesem Roman, nimmt man alles in allem, Hunderte und Aberhunderte von sprachlichen Missgriffen:

    "Sein Zustand lag nicht allein an den bohrenden Kopfschmerzen, die die Höhe nach dem zügigen Aufstieg bei ihm hervorgerufen hatte …"

    ... heißt es schon auf der ersten Seite. Und etwas weiter hinten findet sich die bizarre Formulierung:

    "In ihrem Kopf schien sich ein Gedankengang verselbstständigt zu haben. Weder er noch sie konnte ihn besiegen."

    Ein Gedankengang, der zu besiegen wäre? Tja.

    In einem zweiten Handlungsstrang lässt Glavinic seinen Helden den Mount Everest bezwingen, warum, weiß der Autor wie gesagt selbst nicht so recht. Auf dass der arme Jonas über die Trennung von Marie hinwegkomme, vielleicht. Aber egal. Für die Everest-Passagen hat Glavinic brav recherchiert, die lesen sich im Großen und Ganzen spannend und einigermaßen glaubwürdig, für Nicht-Alpinisten zumindest. Er selbst, bekennt der unter Höhenangst leidende Glavinic, er selbst würde natürlich nie einen Fuß auf den Everest setzen.

    "Ich hab den Willen nicht, so was zu machen. Um auf den Mount Everest zu steigen, der ja bergsteigerisch nicht die größte Herausforderung ist unter den Achttausendern, der Everest gilt ja als einer der leichtesten, wenn nicht der leichteste - man muss sich dennoch physisch vorbereiten. Da muss man sich einen Haufen Muskeln antrainieren, und dann noch ein bisschen Fett dazu, weil einen der Berg, auch wenn man nichts tut, auffrisst. Selbst wenn man bloß im Basislager auf 5300 Metern herumsitzt, frisst einen der Berg auf. Das heißt, man müsste sich unbedingt ein paar Jahre vorbereiten, und dafür bin ich viel zu faul. Ich lebe viel zu gern bequem."

    Diese Bequemlichkeit scheint ein Problem auch des Schriftstellers Thomas Glavinic zu sein. Er hätte intensiver arbeiten müssen an seinem Roman, viel intensiver. Denn einem Schriftsteller mag man mancherlei verzeihen, vielleicht sogar - bei Nachsicht aller Taxen - abstruse Plots und überzeichnete Figuren. Der schlampige und schludrige Umgang mit der Sprache aber, dessen Glavinic sich hier auf 520 Seiten schuldig macht, ist unverzeihlich. Insofern muss man sagen: Die Everest-Expedition, zu der der Autor in literaralpinistischer Selbstüberschätzung aufgebrochen ist, endet - in einem Totalabsturz.

    Thomas Glavinic: "Das größere Wunder"
    München 2013, Hanser Verlag
    524 Seiten, 22,90 Euro

    Mehr zum Thema:

    George Lowe: "Briefe vom Everest - Tagebuch der Erstbesteigung 1953"
    Vor 60 Jahren: Erstbesteigung des Mount Everest