Donnerstag, 28. März 2024

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Tradition der Erinnerungskultur wiederbeleben

Nicht nur dem großen Enzyklopädisten Alexander von Humboldt hat Manfred Osten mit einem Buch gehuldigt, auch "Goethes Entdeckung der Langsamkeit" wurde von Osten gepriesen. Nachdem er mit Goethe eine Entschleunigung gesellschaftlicher Prozesse angemahnt hat, macht sich Osten in seinem neuen Buch "Das geraubte Gedächtnis" für die Tradition der Erinnerungskultur stark. Diese sieht Osten spätestens seit der französischen Revolution mit ihrem Vergangenheitshass und seit Napoleons Flurbereinigung des alten Gedächtnisses bedroht. Schon Goethe habe in "Faust" das Paradigma eines fortschreitenden Gedächtnisverlustes metaphorisch protokolliert, das im 20. Jahrhundert schließlich in den Bücherverbrennungen der Nazis gipfelte. Heute sieht Osten kollektive wie persönliche Erinnerungskulturen vor allem durch die digitalen Systeme bedroht. Nicht nur, weil die Halbwertszeit digital gespeicherter Informationen auf rasch alternden Medien und Programmen sich als äußerst begrenzt erweist, sondern auch, weil man mit der angeblichen Entlastung des Gedächtnisses durch digitale Archivierung einer grandiosen Selbsttäuschung aufsitzt: Was gespeichert ist, darf nämlich vergessen werden

Von Olaf Karnik | 31.12.2004
    Der Computer aber speichert, er memoriert nicht. Das heißt, die Migration des Gedruckten zum elektronischen Zeichensatz entzieht dem Gedächtnis die bislang gewohnte haptische Realität der Bücher. Die alten buch-fixierten geistigen Weberstückchen des assoziative Bezüge stiftenden Gedächtnisses müssen ihre Kunstfertigkeit jetzt auf einem neuen Boden unter Beweis stellen, nämlich auf dem flüchtigen Zeichensatz-Boden hoch aufgelöster Digitalisate. Das Gedächtnis, bislang geübt im Umgang mit selbstgenerierten Assoziationen und Einsichten in Verbindungen, findet sich plötzlich wieder als habitualisierter Benutzer von Speicherkapazitäten mit technisch bestimmten formalen Verknüpfungen und der Abhängigkeit von digitalen Suchmaschinen.

    Die Abhängigkeit von schlecht sortierten Bibliotheken und Buchhandlungen oder den oft nur Spezialisten vorbehaltenen Zugang zu Wissensspeichern in der prä-digitalen Ära nimmt Osten freilich nicht ins Auge. Dass digitale Technologien die Demokratisierung von Wissen enorm beschleunigt und kommunikatives Handeln extrem erleichtert haben, lässt Osten bei seiner tendenziell kulturpessimistischen Diagnose außer Acht. Immerhin wird nicht verschwiegen, wie überlebensnotwendig auch das aktive Vergessen ist, da es persönliche wie gesellschaftliche Handlungsfähigkeit erst ermöglicht - Nietzsches Streitschrift "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" stand hier Pate. Heute habe aber regiere nach Osten die allgemeine Amnesie:

    Man kann das ablesen an einer ganzen Reihe von Phänomenen, die uns heute auf den Nägeln brennen. Ich nehme einfach nur mal das Beispiel des 3. Oktobers, dass der plötzlich liquidiert werden sollte, was in anderen Nationen mit Sicherheit undenkbar wäre; ich nenne das Beispiel, dass wir in Hamburg zum Beispiel die Hälfte der Geisteswissenschaften, die ja traditionell sich definieren als Behüter oder Bewahrer des Gedächtnisses, letztlich gestrichen werden sollen; ich erinnere daran, dass in unserer Rechtschreibreform im Grunde das historische, etymologische Gedächtnis der Worte liquidiert wird; ich erinnere an die Ergebnisse der PISA-Studien, es gibt eine ganze Reihe von Warnungen und Meldungen inzwischen über das Fusionieren und Liquidieren von kulturellen Einrichtungen. Ich glaube, dahinter steckt überhaupt ein Erodieren der gedächtnisgestützten Phänomene. Also, sowohl Religion als auch Kunst als auch Kultur oder auch Gemeinsinn sind letztlich nicht zu haben, auch der Begriff der Nation ohne Gedächtnis.

    Ostens "kleine Geschichte des Vergessens" bündelt vor allem kulturdiagnostische Thesen von Goethe, Grillparzer, Nietzsche oder auch Enzensberger und projiziert diese auf die heutige Situation. Dabei kommt es zu einigen Unstimmigkeiten. Wenn Osten etwa den rapiden Verlust des ikonographischen Gedächtnisses antiker oder christlicher Traditionen beklagt, bleibt die Frage, ob jenes mit der gegenwärtigen Rückkehr und Politisierung der Religionen nicht fast schon unangenehm aufgefrischt wird? Auch Ostens These, dass Erinnerungskulturen vor allem durch Kontinuitätsbrüche in der Geschichte des 20. Jahrhunderts liquidiert wurden - etwa mit der Machtergreifung der Nazis oder bei der 68er-Revolte - ist fragwürdig.

    Sind historische Prozesse nicht seit eh und je durch radikale Kontinuitätsbrüche, Umdeutung und Neuerfindung gekennzeichnet? Und haben nicht die 68er mit dem Rekurs auf Marx und linke Theorie eine ganz andere, anti-bürgerliche und revolutionäre Erinnerungskultur wach gerufen? Erst in den letzten Kapiteln seines Essays gewinnt Osten wieder Oberwasser, wenn er die jüngsten Ergebnisse der Hirnforschung bzw. Neurobiologie präsentiert. Von zukünftigen Möglichkeiten eines medikamentösen Erinnerungsmanagments ist hier die Rede. Und wenn Osten am Ende über die neuronale Aktivität des Gehirns berichtet, wird gar deutlich, dass das Gehirn nur sehr bedingt dazu taugt, Gedächtnisinhalte authentisch festzuhalten, stattdessen eher kreativ-konstruktivistisch operiert. Stellen diese Erkenntnisse nicht Ostens Klage über zunehmende Amnesien grundlegend in Frage?

    Ich glaube, dass die narzistischen Kränkungen, die die Neurowissenschaften uns überhaupt zugefügt haben, was unsere Wahrnehmung und Gedächtnisfunktion betrifft, in der Tat Fragezeichen aufwerfen, die von enormer Relevanz auch sein werden für die weitere Entwicklung der menschlichen Gesellschaft. Ich erinnere nur daran, dass ja letztlich das biochemische Zentrum des Erinnerns entdeckt worden ist durch Erik Kandel, den Nobelpreisträger des Jahres 2000, der letztlich das Protein entdeckt hat, das CREB-Protein, das den ganzen Gedächtnisvorgang einleitet. Das heißt, wir stehen vor der Möglichkeit einer völligen Umwälzung der Gedächtniskultur durch die medikamentöse Herstellung dieses Proteins, und zwar in beide Richtungen – sowohl eines totalen Vergessens als eines grenzenlosen Erinnerns. Wie wir damit überhaupt fertig werden wollen, weiß ich noch gar nicht.

    Viele andere Momente, die die Neurowissenschaften heute erkannt haben, deuten ja darauf hin, dass wir im Übrigen sowieso nur sehr, sehr wenig wahrnehmen und auch sehr wenig memorieren, weil das Protein CREB, das da entdeckt worden ist, nur eigentlich aktiviert wird, wenn wir selber aktiv etwas tun. Also, sei es ein Gedächtnisstoff wiederholen oder besonders positiv emotional irgendwelche Gedächtnisinhalte begleiten - was ja auch eine der großen Entdeckungen ist, dass nur die positiv emotional begleiteten Gedächtnisinhalte eine wirkliche, große Langzeitwirkung haben, während alle anderen Gedächtnisinhalte sehr schnell verloren gehen. Von hier aus müsste meines Erachtens auch eine ganz andere Gedächtniskultur in der Bildung entstehen, nämlich ein Rekurrieren auf das Interesse, denn nur dort, wo das Interesse ist, ist letztlich auch das Gedächtnis, und wo das Interesse schwindet, schwindet auch das Gedächtnis.