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Traditionell und heimatbezogen

Das Bild der Schweiz hat in jüngster Zeit einige Kratzer abbekommen: Sie steht nicht nur für Skiurlaub und Fondue, sondern kommt wegen Bauverbot für Minarette, gestohlene Bankdaten und Beihilfe von Steuerhinterziehung oft in die Schlagzeilen. Wie tickt denn wirklich ein typischer Schweizer, quasi ein Urschweizer?

Von Janina Labhardt | 21.03.2010
    Der Weg schlängelt sich knapp vier Kilometer den Hang hoch. Letzte Woche hat es wieder heftig geschneit, nun ist die Straße nach Stuls geräumt, aber vereist. Während das Unterland - also Zürich und andere Städte in der Schweiz - bereits den Frühling spürt, liegt hier immer noch viel Schnee. Es ist ungefähr zehn Grad unter Null. Von der Ortschaft Bergün, die auf 1376 Meter über Meer im Kanton Graubünden liegt, zieht ein Lift Skifahrer und Snowboarder auf der anderen Bergseite steil hinauf. Eine Schlittelbahn endet auch in Bergün. Man kann sich die fröhliche Stimmung in den Skihütten und auf den Pisten vorstellen.

    Aber auf dem Weg nach Stuls, etwa 20 Minuten zu Fuß, breitet sich große Verlassenheit aus. Kein Mensch ist unterwegs, kein Auto, keine Skitouristen. Der Wind rauscht über das Tal, die Hänge sind weiß und kahl, denn hier ist man bereits über der Baumgrenze.

    Das Dorf Stuls hat 20 Einwohner – umzingelt von verschneiten Bergen. Eine kleine Kirche steht im Dorf. Gegenüber ein Brunnen ohne Wasser. Ein Hund schlendert umher.

    Domenic Janett steht vor seinem Haus. Hier lebt der Volksmusiker mit seiner Frau Rupali und den Kindern Anastasia und Gian Andri. Eine vierköpfige Familie in einem 20-Seelen-Dorf. Einsam fühlt sie sich in diesem abgelegenen Dorf nicht, sagt Domenic Janett.

    "Meine frau sagt, ich bin ja immer weg (lacht), eigentlich nicht einsam, immer irgendwie unter den Leuten."

    Domenic Janett ist immer unter den Leuten, irgendwo unterwegs. Er erteilt Saxofon- und Klarinetten-Unterricht im Ober-Engadin oder in der Region von Bergün. Aber er bevorzugt zum Wohnen die abgeschiedene Bergwelt hier oben. Es war damals, vor 22 Jahren, ein bewusster Entscheid gewesen, hierher zu ziehen:

    "Längere Zeit in Zürich gelebt, hat mir gut gefallen, bis eines Tages meine Frau gesagt hat, sie möchte in den Bergen leben. Dann hat's uns über Umwege nach Stuls verschlagen."

    Der 61-Jährige mit graumeliertem Haar, Halbglatze und gestutzem Bart tritt ins Haus. Über der Haustür steht das Baujahr: 1618. Die Holzdecke in der Küche hängt tief. Den Dielenboden habe er selbst mit einem Freund ausgelegt, sagt er stolz. Auf der Ablage in der Mitte des Raumes steht eine bauchige Vase mit Rosen. Domenic Janett nimmt auf der Holzbank am Esstisch Platz und blickt mit aufgeweckten, freundlichen Augen aus dem Fenster:

    "Extrem ruhig, kein Straßenlärm. Fast nirgends ist es so ruhig, was schon schön ist."

    Domenic Janett schaut auf die große Wanduhr. Es ist bald halb zwölf: Zeit, die Glocken der Kirche zu läuten. Er zieht hastig die Schuhe und Jacke an und geht hinüber zur weißen, zierlichen Kirche. Ein tagtäglicher Gang für Domenic Janett oder seine Frau, immer um halb zwölf.

    Hinter der Kirche führt eine Holztreppe in den Glockenturm.

    Im Turm hängt eine große Glocke, von der ein dickes Seil herunter hängt. Der Berufsmusiker zieht sich einen gelben Gehörschutz über die Ohren. Nach dem dritten Zug am speckigen Seil fängt es an:

    "Überall läuten die Glocken mittags und abends. Bei uns noch von Hand. Früher war es Paul Ambühl, dann lag er eines Tages tot im Bett. irgendjemand musst es heutzutage machen."

    Es sei alles eine Frage der guten Organisation, sagt Domenic Janett. Wenn um elf Uhr dreißig das Essen auf dem Herd stehe, müsse er oder seine Frau trotzdem zehn Minuten einrechnen, um zu läuten. Tag für Tag. Aber:

    "Es ist doch schön. zwar schon ein aufwand, aber es ist doch schön, wenn das jemand von Hand macht."

    Heute ist ein Ausnahmetag, meint Domenic Janett, als er wieder am Küchentisch Platz nimmt: Die Kinder haben Skitag in der Schule. Sie haben heute das Beste Wetter erwischt.

    Und seine Frau Rupali erteilt heute Musikunterricht an einer Grundschule in Davos, 40 Kilometer von Stuls entfernt. Rupali Janett ist übrigens halbe Inderin, ist aber in der Schweiz geboren und aufgewachsen. Ihr Vater war ein Ingenieur aus Indien. Aber er kümmerte sich zu Lebzeiten nicht groß darum, ob Rupali viel von ihrer Herkunft väterlicherseits mitbekommt und die indische Tradition pflegt.

    Und trotzdem: Es ist nicht unbedingt selbstverständlich, dass der typische Schweizer Domenic Janett und das kleine Dorf Stuls offen für diesen Hauch von Exotik sind. Seine Kinder, 15 und 12 Jahre alt, nehmen ihre zu einem Viertel exotische Herkunft nicht wahr:

    "Nicht, dass sie dazu nicht stehen würden, aber man erkennt es eigentlich nicht, außer ein bisschen eine dunklere Haut."
    Und nun möchte Domenic Janett Spaghetti mit Soße kochen. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, bis er weg muss: Kurz nach 13 Uhr muss er in Tschlin sein, wo sein Klarinettenschüler auf den Unterricht warten wird.

    Domenic Janett blickt in regelmäßigen Abständen auf die Uhr.
    Die Familie Janett ist also - abgesehen von äußeren Merkmalen - nicht indisch angehaucht.

    Dafür sehr schweizerisch: Die Volksmusik steht nicht nur für den Vater mit Klarinette und Saxofon im Vordergrund, sondern auch für Anastasia mit Geige und Gian Andri mit Cello und Schlagzeug.

    Was genau reizt denn Domenic Janett an der Schweizer Folklore?

    "Er merke immer beim Improvisieren, zum Beispiel bei einem alten Engadiner Tanz: Das sei eben seine Musik,"

    … sagt Domenic Janett. Obwohl er als Berufsmusiker hin und wieder im Sinfonieorchester engagiert und mit Brahms, Beethoven, Mozart vertraut ist und manchmal in Jazz abdriftet: Seine große Leidenschaft gehört der Volksmusik. Da kann er sich als Klarinettist in der bald 30-jährigen Formation Ils Fränzlis da Tschlin und bei den Engadiner Ländlerfründe ausleben.

    Das Essen ist fertig. Der Zeitplan geht auf, obschon der Berufsmusiker in einer Viertelstunde aufbrechen muss. Domenic Janett spielt und unterrichtet aus Prinzip nicht zu Hause – dafür geht er nach Bergün, Tschlin oder sogar ins Unterland.

    Die "Süddeutsche Zeitung" titulierte den Schweizerischen "Hudigägeler" als "fantasielos, stier, simpel, heimatstilhaft-konservativ, patriotisch, politisch rechts". Ist das tatsächlich ein Abbild des urtypischen Schweizers?

    Unkultiviert und urchig. Um die Meinung anderer kümmere er sich nicht, sagt Domenic Janett. Wenn man etwas mache, dann fänden das die einen gut, die anderen schlecht. Das sei doch immer so. Und seine Wurzeln lägen nun mal bei der Folklore.

    Wie die Schweizer Volksmusik gilt auch das ganze Land als kleine, aber beharrliche Festung inmitten Europas. Domenic Janett gibt dem Ausland recht: Die Schweiz ist eine Insel, die sich gegenüber der Außenwelt isoliert. Ein Leben im Ausland könnte er sich nur schwerlich vorstellen.

    "Ja, ich weiß nicht. Man geht nach Italien oder Korsika in die Ferien, aber so richtig dort leben? da habe ich mich schon daran gewöhnt, hier zu leben und schweizer zu sein."

    Die Zeit des Mittagessens ist schon vorüber. Domenic Janett hetzt nun ins Auto und fährt ab. Das Dorf Stuls ist jetzt noch mehr verlassen. Keine Menschenseele ist unterwegs.

    Der Fußmarsch, die vier Kilometer zurück "in die Zivilisation" - nach Bergün - dauert bergab schneller.