Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Transatlantiker Karl Kaiser
"Die Wahrheit gibt es für den US-Präsidenten nicht mehr"

In den 60er-Jahren ging Karl Kaiser nach Harvard zu Henry Kissinger, später beriet er als Politikwissenschaftler und SPD-Mitglied die Kanzler der Partei in Fragen der Außenpolitik. Im Gespräch erinnert er sich an seine Zeit mit Willy Brandt und erklärt, inwiefern er Donald Trump unterschätzt hat.

Karl Kaiser im Gespräch mit Ursula Welter | 27.06.2019
Grauhaariger Mann in Anzug und Krawatte mit Brille, sprechend, blickt nach oben
Der Politikwissenschaftler und Transatlantiker Karl Kaiser, Aufnahme von 1989 (imago stock&people)
Aus Südwestfalen an die Harvard-Universität
Ursula Welter: Karl Kaiser, Sie sind Jahrgang 1934, geboren in Siegen in Nordrhein-Westfalen, dort sind Sie in den Kriegsjahren und in der Nachkriegszeit zur Schule gegangen. Südwestfalen, das kann man also sagen, stand an der Wiege ihrer akademischen und wissenschaftlichen Karriere. Wenn man, wie Sie, die Welt gesehen hat und erforscht hat, Ehrentitel eingesammelt hat rund um den Globus, was bleibt dann an Erinnerung an die Gegend, also was nimmt man auch mit in die Welt?
Karl Kaiser: Mitgenommen habe ich vor allem die Erinnerung an den Krieg, an die Grausamkeit dessen, was da passiert ist, aber auch an die Humanität der amerikanischen Soldaten, die damals ins Siegerland kamen. Wir hatten das Pech, in einem Försterhaus das Ende des Krieges zu erleben, und das Försterhaus war der Kommandostand der Deutschen, und wir haben es im Keller überlebt, weil die Amerikaner sich sehr anständig verhalten haben. Und praktisch Stunden nach der Eroberung begann die Englisch sprechende Lehrerin, die unter uns weilte, mit den jungen Soldaten zu diskutieren, und das war wohl irgendwo der Anfang meines sehr transatlantisch gestalteten Lebens.
Welter: Sie haben in der zweiten Hälfte der 50er-Jahre den Titel des Diplom-Kaufmanns erworben an der Universität zu Köln, da sind Sie dann später auch als Professor gewesen, haben Ökonomie, Politik studiert. Alle Stationen werde ich gar nicht aufzählen können, aber Sie waren in Grenoble, in Oxford, und dann, das ist wichtig, 1963 bereits Harvard, die Elite-Uni in Cambridge, Massachusetts, zu der Sie auch jetzt gehören. Sie waren damals Mitarbeiter von Henry Kissinger, der zu jener Zeit nationaler Sicherheitsberater war, später dann US-Außenminister. Was konnte man von einem wie Kissinger lernen?
"Kissinger konnte die Essenz identifizieren und nach außen vermitteln"
Kaiser: Als Henry Kissinger mich einlud, nach Harvard zu kommen, um für ihn zu arbeiten, war er noch nicht Sicherheitsberater, da war er Professor, der unter anderem an einer Studie über Europa und Deutschland arbeitete und dafür jemanden brauchte und holte mich also aus Oxford damals. Von ihm habe ich viel gelernt, nicht nur, dass ich natürlich ihm verdanke, nach Amerika geholt zu werden – und ich bin dann ja lange, fünf Jahre geblieben und dann immer wieder zurückgekehrt als Gastprofessor, habe auch eine amerikanische Frau bei der Gelegenheit kennengelernt, mit der ich heute noch verheiratet bin –, bei Henry Kissinger habe ich etwas gelernt, was für einen Politologen sehr wichtig ist, nämlich bei komplexen Problemen das Wesentliche zu sehen. Und er hatte diese unglaubliche Fähigkeit, die er bis heute – er ist jetzt 96 Jahre alt, ich sehe ihn auch gelegentlich – behalten hat, nämlich, den Kern eines Problems zu sehen, indem er, was viele Politologen heutzutage nicht mehr können, die sich in Theorien verlieren, kompliziert sind, … Natürlich, die Welt ist komplex, aber vor allen Dingen in einer Demokratie muss der Politikwissenschaftler lernen, die Essenz zu identifizieren und auch dann nach außen zu vermitteln. Und das hat Henry Kissinger immer wunderbar gekonnt. Es gibt ja Politiker, auch in Deutschland, Konrad Adenauer gehörte zu ihnen, der Dinge so vereinfachen konnte, dass jeder sie verstand, und sie blieben trotzdem wahr und richtig.
Der Transatlantiker Prof. Karl Kaiser im Interview mit Ursula Welter am 19.06.2019
Prof. Karl Kaiser im Dlf-Interview mit Ursula Welter am 19.06.2019 (Deutschlandradio / Ursula Welter)
Welter: Und das heute ein bisschen verloren gegangen?
Kaiser: Das ist sehr verloren gegangen und ich bedaure es sehr, den Trend in unserer Wissenschaft, der in Amerika auch zu verzeichnen ist, aber in Deutschland noch mehr, dass es sich entfernt von der Analyse der Realität, sich verliert in blutleeren Theorien. Damit wird dann hier akademische Karriere gemacht mit dem Resultat, dass die politische Praxis die Wissenschaft nicht mehr ernst nimmt, weil die Wissenschaft ihr nicht mehr sehr viel zu geben hat. Und das ist etwas gewesen, was in den USA immer Aufgabe der Wissenschaft, die ja Government, also Regierung heißt, … die dies im Auge hat. Und in Harvard ist ja eigens eine eigene School, also eine Schule, nämlich die John F. Kennedy School, nach seinem Tode gegründet worden, und dort bin ich auch heute, und diese hat mich ja auch reaktiviert, als ich dann hier als Opfer der deutschen Pensionsregelungen im Alter von 65 Jahren aufhören musste, diese Regelung kennt ja Amerika nicht. Und dort an der Kennedy School wird das Verstehen von Regierung und die Praxis der Regierung gelehrt, also nicht Theorie, sondern Praxis. Und deshalb haben wir auch unter anderem sogenannte Professors of the Practice, die brauchen keinen Doktor zu haben, sondern die müssen eine lange Erfahrung in der Diplomatie oder in der Verteidigungspolitik oder im Parlament haben.
Welter: Zu Ihren Bezügen zur Realpolitik kommen wir jetzt gleich noch, aber ist es auch das, was Sie dann Ihren Studenten vermitteln wollten, konnten?
Kaiser: Immer, und das habe ich auch, als ich dann zurückkam, versucht, in Deutschland zu tun. Aber als ich zurückkehrte, war das noch ausgeprägter. Eine Examensfrage beispielsweise meiner Vorlesung "Die Vereinigten Staaten und Europa in der Weltpolitik" würde zum Beispiel lauten: Sie sind Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten, folgende Situation ist entstanden, bitte machen Sie eine kurze Analyse und eine Empfehlung mit drei Optionen. Das ist die Art und Weise, wie man zum Beispiel an der Kennedy School das erlernte Wissen umsetzt in einer Art von praxisorientiertem Handeln. Man lernt es also.
Der außenpolitische Berater der SPD-Kanzler
Welter: Sie sind, Karl Kaiser, 1964, wenn ich es richtig gesehen habe, der SPD beigetreten. Warum der SPD?
Kaiser: Die Geschichte geht zurück auf die Zeit, als ich politisch sozusagen bewusst wurde. Damals war mir die Westbindung so wichtig, dass ich am Anfang eher CDU-orientiert war. Als dann die SPD die NATO akzeptierte, die Westbindung akzeptierte, öffnete ich mich sozusagen, und es besuchte mich, uns in Harvard Fritz Erler. Fritz Erler war damals die führende außenpolitische Figur der SPD, und ich war sein Betreuer in der Harvard-Universität. Er war der erste deutsche Nachkriegspolitiker von Bedeutung, der eingeladen wurde an die Universität, und er sagte mir auch damals, Sie müssen eigentlich nach Deutschland zurückkommen, und so kam dann meine Verbindung zur SPD. Ich bin dann mit ihm in den Wahlkampf gegangen zwischendurch mal, habe ihn begleitet, und mein Leben wäre anders verlaufen, wenn er nicht gestorben wäre. Denn er war damals die außenpolitische Figur, es war nicht Willy Brandt. Willy Brandt ist dann an seine Stelle getreten. Aber mit dem habe ich dann auch später zu tun gehabt. Also so bin ich in die SPD gekommen und bin bis heute Mitglied der SPD geblieben.
Welter: Wir Studenten haben gesagt, Karl Kaiser war Berater von Willy Brandt und Helmut Schmidt. Wie viel Berater steckte in Ihnen?
Kaiser: Es hat mir immer Freude gemacht, weil ich eben gerne dabei mitwirke, an irgendeinem Problem zu werkeln. Und mein Verhältnis mit Willy Brandt begann, als wir damals noch in Saarbrücken eine Aktion gestartet haben, um die Ratifizierung der Ostverträge zu unterstützen mit einer riesigen Anzeigenaktion, die wir privat organisiert und privat finanziert haben. Daraus entwickelte sich dann ein relativ gutes Verhältnis, das heißt, Schreiben von Reden, Diskussionen mit Willy Brandt, vor allen Dingen …
Welter: Das war in der Zeit Ihrer Professur in Saarland.
Kaiser: Das war Saarland und dann, als ich dann nach Köln ging, noch in der Kölner Zeit. Und mit Willy Brandt verstand ich mich hervorragend. Nach seinem Rücktritt nach der Guillaume-Affäre war ich derjenige, der am Anfang ihm sehr helfen musste, weil er nicht viele Leute hatte. Das änderte sich dann nach einiger Zeit, aber damals habe ich viel mit ihm diskutiert und an einigen Reden mitgewirkt, habe aber noch in der Kanzler-Zeit auch dies getan, zum Beispiel mitgewirkt an der Rede zum Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu den Vereinten Nationen. Dann entwickelte sich zu Helmut Schmidt ein engeres Verhältnis, und als dann Helmut Schmidt und Willy Brandt in der Frage der Nachrüstung anderer Meinung waren, habe ich öffentlich Willy Brandt nie kritisiert, obwohl er ja die Gegenposition innerhalb der Sozialdemokratie einnahm, aber habe dann mit Helmut Schmidt das bittere Ende erlebt bis zu dem berühmten Parteitag, wo er nur noch wenige Stimmen hatte und war überzeugt, dass Helmut Schmidt recht hatte. Und er hat ja auch recht bekommen, denn wir wissen, Gorbatschow hat ja später gesagt, dass die Politik, die Helmut Schmidt haben wollte – aber er konnte sie als Kanzler nicht mehr umsetzen, sondern das hat dann Helmut Kohl getan –, dass diese Politik der Anfang vom Ende der rüstungsorientierten Politik in Moskau war, sodass ex post Helmut Schmidt recht bekam, dass es die richtige Politik war.
Welter: Als Helmut Schmidt mit seiner Partei über die Nachrüstung und den NATO-Doppelbeschluss in Streit geriet, haben Sie, als er dann gestürzt war, wenn er so will, mit einem Dreier-Team von sozialdemokratischen Hochschullehrern dies auch öffentlich kritisiert. Also Sie sind in die Offensive für Schmidt gegangen.
Schwan und Winkler: "Wir waren das sogenannte Himmelfahrtskommando"
Kaiser: Ja, das haben wir damals gemacht, das war Gesine Schwan und Heinrich August Winkler, wir waren das sogenannte Himmelfahrtskommando. Wir versuchten damals, Opposition zu leisten gegen den sogenannten Raketenwahlkampf. Und wir waren auch der Meinung, dass der Dialog mit der SED sich für eine Partei wie die Sozialdemokratie nicht gehörte. Die SED sollte eigentlich nicht unserer Partner sein. Die DDR-Regierung war eine andere Frage, mit der musste man verhandeln. Und damals haben wir versucht, eine Gegenposition einzunehmen. Das ist uns innerhalb der Sozialdemokratie etwas übelgenommen worden, vor allen Dingen an der Spitze. Aber auch hier änderte sich dann vieles, als dann die Sozialdemokratie nach der Niederlage der SPD dann in der Position wieder zur Mitte rückte unter Scharping. Und wir sind sozusagen da geblieben, wo wir immer waren, aber die Partei ging dann wieder zurück zur Mitte.
Welter: Wenn ich da noch mal zurückspringe: Es muss ja für die SPD ein bitterer Moment gewesen sein, als dann unter Helmut Kohl ausgerechnet François Mitterrand, der Sozialist, für den NATO-Schutzschirm warb im Deutschen Bundestag.
Kaiser: So war es. Das hat es auch vorher noch nie gegeben. Aber dies reflektiert ja auch die Interdependenz und Verflochtenheit der deutschen und französischen Politik, dass Deutsche und Franzosen gegenseitig die Politik beeinflussen, weil sie voneinander ja auch abhängig sind. Insofern, ich selbst habe dies als einen großartigen Moment empfunden, dass der französische Präsident im Deutschen Bundestag sich für eine bestimmte Politik aussprach, die ja vorher in diesem Falle Helmut Schmidt vertreten hatte. Es gab wenig Beifall von der sozialdemokratischen Fraktion, obwohl ich weiß, dass viele seiner Meinung waren, aber damals nicht gegen die Mehrheit anzugehen wagten.
Welter: Springen wir ein bisschen in die Ära Gerhard Schröder. Sie haben auch ihn außenpolitisch beraten und seine außenpolitischen Grundpositionen formuliert. Ist das zutreffend?
Kaiser: Ja, ich war mit bei den Wenigen, die ihm damals in der Außenpolitik geholfen haben, und Gerhard Schröder ist ja sehr schnell dann auch ins kalte Wasser gesprungen. Das kam ja alles blitzschnell. Bei seinen außenpolitischen Reden und auch bei dem außenpolitischen Programm, da habe ich auch mitgearbeitet, der späteren Regierung, und bin dann allerdings … Aus rein beruflichen Gründen habe ich dann nicht mehr weiter ihn beraten, war dann allerdings in der entscheidenden Phase des Dissenses zwischen der damaligen sozialdemokratisch geführten Bundesregierung und den USA in der Frage des Irakkriegs der Meinung, dass Gerhard Schröder die richtige Entscheidung, die richtige strategische Entscheidung getroffen hatte. Aber dass man es vielleicht hätte etwas anders machen können, um das Verhältnis mit George W. Bush nicht total zu zerstören, denn das ist bei dieser Gelegenheit leider anders gelaufen, als es hätte laufen können.
Schröder gegen Irakkrieg: "gewaltiger Schritt für einen deutschen Bundeskanzler"
Welter: Als sich Gerhard Schröder gegen den Irakkrieg aussprach mit dem französischen Präsidenten Chirac damals, war er der erste Kanzler, der nach dem Krieg sozusagen den USA in einer so wichtigen Frage die Gefolgschaft verwehrte.
Kaiser: Ja. Es war ein gewaltiger Schritt für einen deutschen Bundeskanzler, und es war die richtige, wie ich sagte, die richtige strategische Entscheidung, die man hätte vielleicht besser begleiten können mit dem Versuch, die persönliche Beziehung zu erhalten. Auf der anderen Seite, muss ich auch sagen, ist es dann Gerhard Schröder gewesen, der den Mut gehabt hat, zum ersten Mal nach dem Kriege deutsche Soldaten wieder sozusagen auf eine Kriegsmission zu schicken. Und das ist ein Sozialdemokrat gewesen, damals mit der grünen Partei zusammen, damals unter Joschka Fischer.
Welter: Ist das aus Ihrer Sicht die markante neue Akzentuierung der deutschen Außenpolitik unter Rot-Grün dann gewesen?
Kaiser: Es ist ein glücklicher Zufall der Geschichte gewesen, dass diese Entscheidung kam, als eine linksliberale, linke Regierung an der Macht war und diese die Entscheidung machen musste. Denn es war ja vorher so, und ich entsinne mich sehr gut an die Lehre in der Universität, dass man zu sagen pflegte: Weil Deutschland diese entsetzliche Vergangenheit von Holocaust und Zweitem Weltkrieg und Aggression hinter sich hat, müssen wir sozusagen uns zurückhalten, dass die sich sozusagen 180 Grad umdrehte. Und zum Zeitpunkt, als in die deutschen Stuben über das Fernsehen die ethnische Säuberung und die Grausamkeit des Krieges und die Unterdrückung des Balkankrieges hinein geflimmert wurde, dass dann die These so lautete: Weil Deutschland diese Vergangenheit hat, kann Deutschland nicht mehr tatenlos zuschauen. Und das war in meinen Augen der entscheidende Paradigmenwechsel wahrscheinlich der deutschen Nachkriegspolitik. Und so trafen damals Gerhard Schröder und Joschka Fischer diese Entscheidung. Das war eine sehr mutige Entscheidung. Die war nicht unumstritten. Es bedurfte auch einer erheblichen Diskussion in der Bundestagsfraktion, an einer habe ich teilgenommen, um diese Entscheidung herbeizuführen. Aber ich vergesse auch nicht den Moment, ich bin damals mit beiden in Washington gewesen, und Clinton wurde, als die beiden in Washington waren, angerufen von Richard Holbrooke, der Clinton dann sagte, Milošević ist der Auffassung, die NATO wird nie intervenieren, weil die Deutschen das nicht können, und Clinton dann den beiden Herren sagte, jetzt liegt es an Deutschland. Und sie sind dann zurückgeflogen und haben die Entscheidung getroffen. Und wenn sie sie nicht getroffen hätten, wäre eine große Krise ausgebrochen, und die notwendige Anpassung der deutschen Außenpolitik an die gewachsene Rolle Deutschlands und an die geänderten Umstände wäre ausgeblieben. Und das vergisst man oft. Gerhard Schröder wird ja für manches dieser Tage kritisiert im Zusammenhang mit Nord Stream und seinem Verhältnis zu Putin, aber man sollte nie vergessen, dass diese beiden Politiker eine sehr nach vorn zeigende, richtungweisende Entscheidung getroffen haben, die nicht einfach war.
Welter: Und Schröder hat aber auch das Werben für seine Agenda 2010 außenpolitisch flankiert, das kann man, glaube ich, auch sagen. Er hat sozusagen das Gewicht Deutschlands in der Welt dann immer mit in die Waagschale geworfen.
Kaiser: Ja, die 2010-Reform war ja auch deshalb nötig, um der führenden Ökonomie in Europa wieder ein neues Korsett anzuziehen. Und wir alle wissen, dass die Reform den "kranken Mann Europas" – so wurde Deutschland damals bezeichnet – wieder auf die Beine gebracht hat. Und das hat dann die außenpolitische Handlungsfähigkeit der Bundesregierung erheblich vergrößert.
Streit um die Oder-Neiße-Grenze
Welter: Sie haben, Karl Kaiser, für Aufsehen gesorgt 1989, als Sie unter anderem in einem Deutschlandfunk-Interview darauf hingewiesen haben, dass es Dokumente gebe, aus denen abzulesen sei, dass Altbundeskanzler Konrad Adenauer mit Blick auf die Gebiete der Oder-Neiße-Grenze zwar nicht völkerrechtlich, aber doch de facto einen Verzicht ausgesprochen habe. Was genau hatten Sie da vor Augen? Es hat viel Wirbel gegeben, denn es steckte einiger Sprengstoff in dieser Recherche.
Kaiser: Ja. Wir müssen uns zurückrufen, dass in dem Moment, 1989, als alles sich bewegte auf eine völlige Veränderung und fortschritt in der deutschen Frage, Herr Waigel damals namens der CSU die These vertrat, die deutsche Frage hört nicht an der Oder-Neiße-Linie auf, also im Grunde genommen diese These aufwarf, wenn die Wiedervereinigung kommt, müssen wir auch die Grenzfrage aufwerfen. Alle Kräfte, die damals auf der freidemokratischen, sozialdemokratischen und grünen Seite gearbeitet hatten, hatten einen Konsens, und für Willy Brandt, aber auch für Helmut Schmidt war das vollkommen klar: Wenn man mit der deutschen Vereinigung auch nur andeutungsweise die bestehende Grenze zu Polen infrage stellt, wird sich sofort eine Koalition aller gegen die deutsche Wiedervereinigung bilden. Das war Konsens, auch in großen Teilen der CDU, ich würde sogar sagen, die Mehrheit der CDU teilte das. Und ich selbst war ja deutscher Ko-Vorsitzender des Deutsch-Polnischen Forums, das, unter Helmut Schmidt und Edward Gierek auf der polnischen Seite, eingerichtet wurde, und Persönlichkeiten wie von Bismarck, der damals Abgeordneter war, Präsident der Pommern, haben dies im Grunde mitgetragen. Und nun wurde auf einmal das Gespenst einer Grenzrevision wieder aufgeworfen. Und es bildete sich sofort eine Koalition, nicht nur zwischen Frankreich und Polen, also die Polen reisten sofort zu Mitterrand und Mitterrand erklärte, wir werden selbstverständlich dafür eintreten, dass das nicht so kommt. Und damals … Mir war bekannt, dass Adenauer eine Art Gentleman's Agreement zurückgehend auf 1951 getroffen hatte mit den hohen Kommissaren Großbritanniens, der USA und Frankreichs, dass, wenn die Alliierten die Anerkennung sozusagen jetzt nicht vornähmen, also im Grunde genommen die friedensvertragliche Regelung auf die Zukunft erst verschoben, dass die Deutschen in dieser Frage Ruhe halten würden.
"Ohne Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze wäre die Wiedervereinigung unmöglich gewesen"
Welter: Also eine Art Stillhalteabkommen.
Kaiser: Es war im Grunde genommen ein Stillhalteabkommen, und jeder, der seine Memoiren liest und dann auch den damaligen Vermerk vom Botschafter Blankenhorn, der in der in der Besprechung dabei war, nachliest, kann auch klar sehen, wie die vier miteinander gesprochen haben. Das habe ich dann damals auch vertreten. Im Grunde half die Diskussion. Ein eigenes Papier wurde nicht gefunden, nur der Vermerk von Blankenhorn, der wurde gefunden, und der geht sehr weit, und der Vermerk geht so weit, dass Adenauer, als er den letzten Band seiner Memoiren diktierte, den gesamten Vermerk von Blankenhorn benutzt hat, um das Gespräch zu charakterisieren, aber die entscheidende Passage zur Grenze ausgelassen hatte. Und mir ging es damals darum, daran zu erinnern, dass Adenauer ein Realist war, dass jedes Aufwerfen der Grenzfrage die deutsche Vereinigung verhindern konnte. Es hat sich dann ja auch alles gelegt und es ist dann am Ende der amerikanische Präsident Bush gewesen, der in einer berühmten Unterhaltung dann in der Schlussphase der Verhandlungen Kohl dann davon überzeugt hat, dieses Thema jetzt fallenzulassen und die Grenze so, wie sie ist, zu akzeptieren als die endgültige Grenze. Und so ist es dann ja auch im Zwei-plus-Vier-Vertrag niedergelegt worden.
Welter: Aber Sie haben einigen Wirbel ausgelöst damals und auch einiges einstecken müssen in der öffentlichen Debatte.
Kaiser: Ja, es war eine etwas schwierige Zeit, aber ich war der Meinung, es war nötig, dies zu sagen und daran zu erinnern, dass ohne die Anerkennung der Grenze eine deutsche Vereinigung nicht möglich gewesen wäre.
Donald Trump und die Rolle Europas
Welter: Der Harvard-Professor Karl Kaiser muss sich natürlich jetzt auch die Fragen zur aktuellen Lage anhören. Sie haben bereits vor der Wahl Donald Trumps gewarnt, nicht nur, weil Sie als Sozialdemokrat vielleicht eher die Kandidatin Clinton unterstützt hätten, sondern auch, weil Sie, wie mir scheint, in allem, was ich gelesen habe von dem, was Sie damals gesagt haben, überzeugt sind, waren, dass eine zerstörerische Kraft von Trump ausgehe. Sind Ihre Erwartungen erfüllt oder gar übertroffen worden?
Kaiser: Sie sind übertroffen worden, weil ich nicht gedacht hätte, dass die republikanische Partei, die eine große und sehr konstruktive Rolle beim Aufbau der Weltmachtposition Amerikas gespielt hat, in dieser Art und Weise widerstandslos die Zerstörung einer Struktur hinnimmt, die der Nachkriegswelt Stabilität und Demokratie und Prosperität gebracht hat. Das habe ich unterschätzt. Und das ist auch nach wie vor das große Problem. Ich bin ja nun mittlerweile nicht nur Transatlantiker, sondern bin sowohl Amerikaner als auch Deutscher, ich habe also neben der deutschen Staatsangehörigkeit die amerikanische angenommen und identifiziere mich auch mit der amerikanischen Demokratie. Und dies ist das große Problem, dass das Checks and Balances, also das System des Gleichgewichtes, nicht mehr funktioniert. Denn der Kongress ist in der jetzigen Zusammensetzung nicht mehr in der Lage, ein echtes Gegengewicht zu bilden und hat dem Präsidenten keinen Einhalt zu bieten vermocht. Und das ist für das gesamte Nachkriegssystem ein riesiges Problem und auch für Deutschland und auch für Europa. Denn die Sicherheit des Westens, die Prosperität des Westens beruht ja auf einem System von Regeln und Institutionen, die unter der Leitung und Führung Amerikas in der Nachkriegszeit geschaffen wurden. Und die Krise, die wir haben, unterscheidet sich von früheren Krisen durch Folgendes: Die früheren Krisen, die waren zum Teil sehr heftig, wurden innerhalb eines bestehenden Konsenses ausgefochten, was immer an Meinungsverschiedenheiten existierte, zum Beispiel, als Gerhard Schröder anderer Meinung war als Bush.
Welter: In der Irakfrage.
Kaiser: Es war überhaupt keine Frage, dass wir Freunde sind, wir im gleichen System handeln, und selbstverständlich hat der damalige Bundeskanzler Schröder dem BND Anordnung gegeben, dem CIA zu helfen in Bagdad, und die deutschen Soldaten haben die amerikanischen Basen hier beschützt, damit die Soldaten in den Krieg ziehen konnten. Das ist alles so gemacht worden. Man konnte sich also sicher sein, dass innerhalb eines bestehenden Konsenses ein Konflikt ausgetragen würde. Jetzt geht es darum, dass der Konsens infrage gestellt wird. Das heißt also, dass der Rahmen, innerhalb dessen wir früher unsere mehr oder weniger großen Meinungsverschiedenheiten ausgetragen haben, dass der nicht mehr hält, sondern von Washington zerstört wird in systematischer Weise. Und dies, zurückkommend auf meinen früheren Punkt, mit der Zustimmung einer Hälfte des amerikanischen Kongresses, nur einer Hälfte. Die Demokraten sind hier anderer Meinung und haben es auch gesagt, aber in der jetzigen Lage ist der alte Konsens an Institutionen und Regeln seitens Washington infrage gestellt.
"Der Rassismus des Präsidenten Trump"
Welter: Das heißt aber auch, auf die USA intern betrachtet, gesagt: Die grundlegenden Werte der amerikanischen Verfassung sind gerade auch zumindest teilweise verraten?
Kaiser: Ja. Das, was wir beim Aufbau der deutschen Demokratie nach dem Kriege in Amerika als Vorbild gesehen haben, das wird an den verschiedensten Stellen verletzt. Ob das nun jetzt der Rassismus des Präsidenten ist oder die totale Relativierung der Wahrheit, die gibt es für ihn nicht mehr, die Unzuverlässigkeit, die Infragestellung der Beihilfsverpflichtungen von der NATO, die ja Erwartungen schafft. Und ohne diese Verpflichtungen, die Gewissheit, dass im Falle einer wirklichen Krise Amerika auch einem Angegriffenen zur Hilfe kommt, ist ja der Frieden gefährdet. Und das ist das eigentliche Problem. Formal ist der Artikel fünf immer noch in Kraft, aber wir alle wissen, seine Implementierung hängt von dem Willen des amerikanischen Präsidenten ab, und bei ihm weiß man nicht, wo man dran ist. Und so gesehen ist trotz des hervorragenden Beitrags, den die amerikanischen Streitkräfte und das Verteidigungsministerium geleistet haben, da hat sich nichts geändert, ist immer ein kleiner Zweifel geblieben, weil man nicht weiß, wie ein Präsident in einer Krise entscheidet. Denn er trifft am Ende die Entscheidung, wie gehandelt wird, und nicht das Verteidigungsministerium.
Welter: Was sagen Sie unter diesen Vorzeichen der NATO voraus? Die Debatte über das Zwei-Prozent-Ziel, dazu kommen wir gleich noch, wenn wir über die Rolle Deutschlands reden, liegt auf dem Tisch und beschäftigt uns. Wie geht es weiter mit der NATO und was bedeutet das auch, was Sie gerade schildern, für die Rüstungsregime?
Kaiser: Vorerst ist der Konsens im amerikanischen Kongress auch bei den Republikanern noch sehr stark für die Aufrechterhaltung des Bündnisses. Es ist nur der Präsident gewesen, der Zweifel geweckt hat an der Beistandspflicht des Artikel fünf, nicht der Kongress. Im Gegenteil, auch der Kongress stellt sich in dieser Frage, er hat unter anderem eine Resolution fast einstimmig verabschiedet, voll hinter eine Fortführung der klassischen NATO-Politik. Ich sehe also keine großen Probleme der Fortführung, vorausgesetzt, wir haben keine große Krise, wo unter Umständen sich etwas verändern könnte. Trump hat in der Frage des deutschen Beitrags leider vollkommen recht: Die Deutschen haben über alle die Jahre sich daran gewöhnt, Obama hat es einmal "free rider" genannt, also ein Trittbrettfahrer auf Deutsch, dass die USA am Ende die Hauptlast tragen und Deutschland als das wohlhabendste Land Europas nur einen gemäßigten Beitrag zu leisten braucht, vor allen Dingen nach der Wiedervereinigung, als man die Friedensdividende zu nutzen glaubte. Man hat dann im Laufe der Zeit glücklicherweise von oben ab in den Erklärungen von Bundespräsident über Kanzler über Verteidigungsministerin zwar gesagt, das geht nicht mehr so weiter, aber das ist jetzt auch schon wieder fünf Jahre her. In der Realität ist weder in der politischen Klasse noch im Handeln noch in der öffentlichen Meinung eine große Veränderung eingetreten. Und wenn sich dies nicht ändert, wird dies ein großes Problem bleiben. Vor allen Dingen deshalb, weil in der sich verändernden weltpolitischen Landschaft Europa mit Deutschland als einer Zentralmacht auch verändern muss und eine stärkere Verantwortung übernehmen muss. Und das geht nur, wenn die Deutschen den Beitrag leisten.
"Europa muss eine stärkere Verteidigungsfähigkeit haben"
Welter: Sie sprechen von einer neuen Phase der deutschen Außenpolitik in Ihren Texten.
Kaiser: Ja, und die ist gekommen, weil wir das europäisch-amerikanische Verhältnis neu strukturieren müssen mit einem viel größeren Gewicht und mit einer größeren Eigenverantwortung. Und dies bedeutet, dass Europa auch eine stärkere Verteidigungsfähigkeit haben muss, dies bedeutet einen höheren Verteidigungshaushalt, und das ist sehr unpopulär und die politische Klasse in Berlin hat sich da gedrückt, und wir sind im Beitrag trotz der Zusage der Bundeskanzlerin wieder zurückgegangen. Und das Argument, dass Deutschland so viel nicht ausgeben könnte, stimmt deshalb nicht, weil ein Teil … Und dies hat gerade … In einem wichtigen Beitrag von Sigmar Gabriel hat er dargelegt: Wir können anderen helfen. Wir müssen nicht alles in Deutschland in die Bundeswehr stecken, obwohl diese es auch braucht, aber sie kann nicht mehr ausgeben, als sie ausgeben kann. Aber wir können unseren Partnern helfen und können dadurch den deutschen Beitrag leisten und damit auch die gebotene Führungsrolle der Bundesrepublik in dieser Neuordnung Europas und des atlantischen Verhältnisses dann auch zum Ausdruck bringen.
Welter: Nun geht es dabei ja nicht nur um Budget und um Zahlen, es geht auch um den deutschen Parlamentsvorbehalt. Wie steht es damit?
Kaiser: Der Parlamentsvorbehalt ist vom Bundesverfassungsgericht geschaffen worden, den gibt es nicht in der Verfassung, es ist ein Produkt des Verfassungsgerichtes, aber es ist nun einmal da. Aber auch da muss die Bundesrepublik und auch das Parlament lernen, damit so behutsam umzugehen, dass daraus keine Blockadefunktion für eine europäische Verteidigungspolitik wird. Das ist nämlich jetzt der Fall.
Welter: So wird es zum Beispiel in Paris wahrgenommen.
Kaiser: Ja, und mit Recht wird es in Paris so wahrgenommen, auch in der Rüstungspolitik. Da muss die Bundesrepublik lernen, zu akzeptieren, dass man sich dann unterwirft einer Mehrheitsmeinung. Sonst geht es nicht. Und das gilt auch für Rüstungsexporte: Man kann nicht ein gemeinsames Flugzeug entwerfen, und das kann man nur noch gemeinsam, auch aus ökonomischen Gründen, und dann darauf bestehen, dass für jede Schraube, die aus Deutschland kommt, ein deutsches Veto existiert. Das geht nicht. Diese Politik muss ein Ende nehmen. Sonst bleibt Europa ein Satellit und kann seine Bedeutung nicht angemessen zum Ausdruck bringen und auch keine Politik verfolgen.
Die Verantwortung Deutschlands
Welter: War denn überhaupt damit zu rechnen, dass, als der französische Staatspräsident Macron seine Sorbonne-Rede gehalten hat, dass sich in Deutschland in dem Maße etwas bewegen würde, dass es da tatsächlich Fortschritte geben würde? War damit zu rechnen?
Kaiser: Ich habe damit gerechnet, viele Beobachter in den USA, die wir dies alle sahen, sagten, Gott sei Dank, jetzt kommt neue Bewegung in die europäische Politik. Wir haben alle damit gerechnet, vor allen Dingen, weil immer auf deutscher Seite ja auch die Politik, manche würden sagen, die Rhetorik des deutsch-französischen Verhältnisses eine so große Rolle in der Vergangenheit gespielt hatte. Und es ist ja auch so: In der Entstehung der europäischen Integration haben diese beiden Länder die zentrale Rolle gespielt. Man konnte also davon ausgehen, jetzt kommt neue Bewegung in die europäische Politik durch eine Kooperation zwischen Frankreich und Deutschland. Es ist ein wenig geschehen, das ist wahr, aber nicht das, was notwendig gewesen wäre. Also die amerikanischen Freunde einer Stärkung Europas sind etwas enttäuscht über das deutsche Verhalten, obwohl man sehen muss, dass natürlich die Auffassung Macrons viel weiter ging, als man realistischerweise sofort umsetzen konnte. Aber das schadet nichts. Es musste ein Anstoß gegeben werden, den hat er gegeben. Und es ist ein Glücksmoment, dass gegen eine Marine le Pen, eine Nationalistin, die auch noch anti-deutsch ist, dass ein Mann wie Macron mit einer europäischen Auffassung die Mehrheit gewinnt. Und das hätte man von deutscher Seite viel, viel mehr aufgreifen müssen. Und deshalb ist in den USA einige Enttäuschung zu verzeichnen.
Welter: Haben Sie eine Erklärung dafür: Warum ist Deutschland stecken geblieben unter Angela Merkel?
Kaiser: Ich verstehe es auch nicht, weil sie nämlich am Anfang, sie selbst am Anfang in dieser Hinsicht sehr, sehr weit nach vorne gegangen ist. Ich verstehe nicht, warum die stecken geblieben ist. Die Antwort muss deutsch-französisch sein. Ich kann es mir nicht erklären und man kann nur, auch aus der transatlantischen Sicht, hoffen, dass die Deutschen ihre Verantwortung für die deutsch-französischen Beziehungen als Grundlage einer Neubelebung Europas auch wieder umsetzen und erkennen.
Welter: Diese Neubelebung Europas, auch im außenpolitischen Sinne: Wir nehmen ja gerade wahr, dass zum Beispiel bei der Krise in Nahost Europa ohne Antwort ist.
Kaiser: Europa gibt es im Nahen Osten überhaupt nicht. Ich kann zwar auch nicht jetzt sagen, was wir genau tun sollten, und auch niemand in den USA von den Analysten oder von den Politikern ganz zu schweigen - die sind der Auffassung, dass Europa da überhaupt nichts zu suchen hat -, was zu tun wäre. Aber es fehlt ja auch nur der Anfang eines Nachdenkens darüber, was die Rolle Europas außerhalb der traditionellen Bereiche sagen kann. Nun hat wenigstens Europa angefangen, auf die Flüchtlingskrise in einer anderen Weise zu schauen, indem man – und da hat Frau Merkel eine sehr positive Rolle gespielt –, indem man sagt, wir müssen den Menschen helfen, dass sie bleiben, wo sie sind, indem wir eine neue Afrika-Politik machen. Und Afrika wird Europas großes Problem werden. Kein Land hat eine so große, so starke Bevölkerungsvermehrung wie Afrika, und am Ende dieses Jahrhunderts werden viereinhalb Milliarden Menschen in Afrika leben. Und das Problem, wenn nicht eine fundamentale Veränderung der Politik auch von unserer Seite kommt, um Afrika zu helfen, wenn das nicht kommt, wird das Migrationsproblem ein überwältigendes Problem sein. Und das jetzige ist dann nur ein Bruchteil von dem, was dann kommen wird. Da fängt Europa wenigstens an, umzudenken. Aber was den Nahen Osten angeht, ist Europa abwesend. Und hier ist es Aufgabe eines sich neu bildenden Europas, zu sagen: Das ist auch unser Problem. So fängt es an. Das heißt noch nicht, dass man dann auch die Instrumente hat. Die müssen entwickelt werden noch.
Welter: Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, zielt auf die Rede, die Angela Merkel gerade in Harvard gehalten hat. Es gab dort viel Applaus, es gab aber auch die eine oder andere kritische Berichterstattung. Sie haben dann dagegen gehalten. Wie haben Sie den Moment erlebt? Fange ich mal damit an.
Kaiser: Der Moment von der Rede war für einen Deutschen, der im transatlantischen Verhältnis zu Hause ist, sehr bewegend. Denn sie tritt in eine Tradition der deutschen Bundeskanzler, und die beste, die größte Universität Amerikas hat eine enge Verbindung, die deutschen Bundeskanzler haben alle dort geredet. Und es war schon bewegend, von Adenauer, nicht wahr, über Willy Brandt, Helmut Schmidt, Helmut Kohl, jetzt Frau Merkel, und Richard von Weizsäcker als Bundespräsident, jetzt Frau Merkel da zu sehen, die mit sehr großem Einfühlungsvermögen diese riesige Versammlung sehr bewegt hat. Stehende Ovationen. Zugegeben, es ist eine sehr liberale Zuhörerschaft, die dort war, aber es ist eine Rede von amerikanischer Bedeutung. Sie ist ja auch weitgehend dort in den USA zur Kenntnis genommen worden. Was mich als Transatlantiker und Deutsch-Amerikaner, muss ich sagen, sehr bewegt hat, war: Hier ist die deutsche Bundeskanzlerin, die Amerika und Deutschland an die zentralen Werte erinnert, die Deutschland mal aufgebaut haben mithilfe Amerikas, und das sind dieselben Werte, die der Mann im Weißen Haus verletzt. Und deshalb haben die Menschen ihr auch so zugestimmt.
Welter: Also das heißt, man freut sich jetzt über das Bekenntnis zu den Werten des Westens, die mal selbstverständlich waren?
Kaiser: Ja. Und die sind eben nicht mehr selbstverständlich für Trump. Und das ist schon für jemanden, der die Geschichte vor Augen hat und weiß, was Deutschland Amerika verdankt, schon sehr bewegend, dass eine deutsche Politikerin in Amerika Amerika daran erinnern muss: Dies ist das, was uns beide verbunden hat und was Amerika groß gemacht hat und uns groß gemacht hat.
Welter: Karl Kaiser, ich möchte Ihnen zum Schluss die Frage stellen: Mögen Sie es oder freuen Sie sich auch, wenn man Sie einen großen Transatlantiker nennt?
Kaiser: Ja, ich freue mich. Denn Transatlantiker zu sein bedeutet, einen positiven Beitrag zu leisten, denn ohne die transatlantische Welt und der Zusammenhalt dieser beiden Teile wird die Welt der Zukunft nicht friedlich sein.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.