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Transfer eines Demokratie-Experiments

Unter Mitwirkung der Festivalzuschauer hatte Thomas Ostermeier in Avignon mit Ibsens "Volksfeind" aktive Demokratie als Theater im Theater inszeniert. Bei der Premiere in Berlin wollte der Funke noch nicht überspringen: das urbane Publikum schwieg.

Von Eberhard Spreng | 09.09.2012
    François Hollandes Amtseinführung war gerade mal zwei Monate her und die Hundert Tage-Frist noch voll im Gange, als Thomas Ostermeiers Inszenierung des Volksfeindes in Avignon Premiere hatte. Und vielleicht war mit der Erleichterung über das Ende der Sarkozy-Regierung eine große Debattierfreude über das französische Premierenpublikum gekommen, die aus einer ordentlichen, aber etwas konzeptionell langweiligen Inszenierung urplötzlich ein Demokratieexperiment machte. Die Aufführung provozierte die Teilnahme des Publikums, das Saallicht ging an, die Stimmung wurde heiter und wach.

    "Sie wissen sehr gut dass Demokratie nicht existiert", sagte da ein Zuschauer, "Entscheidungen werden nicht von uns sondern von großen Banken und den Leadern Multinationaler Konzerne getroffen. Die antike Athenische Demokratie bestimmte Ihre Volksvertreter per Losverfahren und hatte mit unserer repräsentativen Demokratie nichts zu tun. Und der Herr Bürgermeister in diesem Stück ist ein korrupter Strippenzieher wie so viele unserer kommunalen Politiker."

    Spätestens mit dieser ersten Äußerung war Ostermeiers Konzept aufgegangen, das Gebrüder-Streitpaar Stockmann, den Fundi Thomas und den Realo Peter als Chiffren gesellschaftlichen Verhaltens von Ibsen bis in die Gegenwart zu projizieren und mit ihnen eine öffentliche Debatte auszulösen. Vom Skandal um den Appetitzügler "Mediator", der einigen Hundert Franzosen das Leben gekostet hat war plötzlich im Saal die Rede, auch wenn dies nicht, wie im Stück, ein Umwelt-, sondern ein Pharmaskandal ist. Bis hin zu Alternativen zum Individualverkehr war die Rede in einer offenen Debatte, die sich völlig organisch in die Dramaturgie des Abend einfügte. Nichts von alledem geschah bei der Berliner Premiere, obwohl auch hier zwischen dem Badearzt auf der Bühne und dem opportunistischen Buchdrucker und Mittelstandsvertreter Aslaksen im Saal die Reizworte fielen, die normalerweise Reaktionen auslösen:

    "Wenn sie hier in einem öffentliche Raum sagen, dass sie ihre politischen Gegner ausrotten wollen, dann sind sie beim Faschismus angelangt und eigentlich bin ich ganz froh dass Sie jetzt ihr wahres Gesicht zeigen: Das ist Faschismus."
    "Ja, kommen Sie mir ruhig mit der Nazi-Keule."

    Verschiedene Versuche starten die Darsteller von den Seitengängen der Zuschauerränge aus, aber nur eine nicht mehr ganz junge Dame ließ sich zu einer Äußerung bewegen. Die Kosten für die Sanierung das Bades müssten überprüft werden und die zerstrittenen Akteure des Konfliktes sollten sich um einen runden Tisch versammeln. Schlichtung, Konsensstrategie, Rechnungsprüfung, das sind deutsche Tugenden beim Bewältigen der Krise. Auffällig ist allenfalls dass sowohl in Avignon sowie in Berlin ausschließlich ältere Zuschauer rund um die sechzig das Debattenangebot annehmen und die jüngeren amüsiert dieser parlamentarischen Spontanübung folgen, so als wär's ein längst überholtes Ritual. In Avignon intervenierten vor allem drei Herren aus den umliegenden Kommunen, die sich noch an die politische Kultur erinnern, die einst von Festivalgründer Jean Vilar in der Rhone-Stadt etabliert worden war, in Berlin schwieg das urbane Premierenpublikum, das sich nur noch müde und abstrakt an das Theater als politischer Anstalt erinnern kann. Und noch etwas unterscheidet beide Abende: Die Avignon-Premiere fand in einem Logentheater statt, dass zwar architektonischer Ausdruck einer Ständegesellschaft ist, aber zugleich als Rundbau Blickbeziehungen im Publikum herstellt, während die frontalen Ränge in der Schaubühne alle Zuschauer auf die Bühne ausrichten.

    Vielleicht auch wäre eine Premiere in Paris ähnlich verlaufen wie in Berlin, denn immerhin waren die debattenfreudigen Zuschauer in Avignon allesamt Menschen aus der Provinz und keine Pariser. Vielleicht hat das zitierte unsichtbare Komitee in "Der kommende Aufstand" recht mit der Diagnose dass die "planetäre Katastrophe" ihr Zentrum in den Metropolen hat, da wo die vereinsamten Ichs bindungslos umherschwirren und vielleicht kommen die Auswege aus der Krise eher von den Rändern als aus den Zentren. Vielleicht muss Ostermeier aber für seine Demokratiedebatte einfach nur ein normales Berliner Publikum abwarten, eines ohne Kritiker und Kulturbetriebsroutiniers.