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Traumverlorene Kurzbelletristik

In einer Welt, in der mit Fantasy billigster Machart Milliardenumsätze erzielt werden, bietet Leonora Carrington so etwas wie den reinen Urstoff feil - fantastische Gesellschaftssatiren verwoben mit dem europäischen Kunstmärchen und der britischen Gruselstorytradition.

01.04.2010
    McBologan, McFlanegan und McHooligan sind keine sonderlich zivilisierten Zeitgenossen. McBologan ist der Fluch, McFlanegan der Schrecken und McHooligan der Ekel des Waldes. So stellen sie sich der unerschrockenen Ich-Erzählerin in der Fabel "Drei Jäger" vor, einer der zahlreichen von Heribert Becker aus drei Sprachen – Französisch, Englisch und Spanisch – homogen übersetzten Texte der "Windsbraut"-Sammlung.

    Neugierig und wagemutig, wie die junge Frau eben ist, lässt sie sich vom wilden Brudertrio auf deren Landgut am Rande der Wildnis entführen. Jagdtrophäen wollen sie ihr zeigen! Da einst jedoch dem Urahn des Hauses bei einer kirchlichen Zeremonie unkontrollierte Darmwinde entfuhren, sind all seine Nachkommen mit einem schrecklichen Fluch gestraft: Was immer sie an Trophäen ergattern, Geweihe wie Felle, verwandelt sich in Würste ... das Landgut ist ein bizarres Wurstmuseum.

    Leonora Carrington, Tochter aus gutem Hause – der Vater war ein steinreicher britischer Industrieller mit entsprechender Sehnsucht nach den Insignien des Adels –, Leonora Carrington also wusste, was in ihren Kreisen als peinlicher Fauxpas galt. Frühzeitig in die Kunst emigriert und dann auch noch mit den an Anstößigkeit kaum zu überbietenden Surrealisten verbandelt, rieb sich die heute 92-Jährige von Anbeginn am väterlichen Erbe eines patriarchalisch fest gefügten und darum für Lächerlichkeit höchst anfälligen Gesellschaftsmodells. In ihm gaben Gouvernanten den Ton an und stellten Lebensregeln auf, die der als wild beschriebenen jungen Carrington keine Perspektive bieten konnten. Sie vertiefte stattdessen das mütterliche, keltische Erbe und schuf eine Belletristik, in der sich die fantastische Gesellschaftssatire nach dem Vorbild der "Alice in Wonderland" mit dem europäischen Kunstmärchen, mit alten irischen Sagen und der britischen Gruselstorytradition zu einem neuen Konzentrat vermischte.

    In einer Welt, in der mit Fantasy billigster Machart Milliardenumsätze erzielt werden, bietet Leonora Carrington so etwas wie den reinen Urstoff feil, der bis auf ihren Roman "Das Hörrohr" freilich niemals größere Leserzahlen erreichte. Viel zu eigenwillig traumverloren, zu verschroben bildersüchtig, zu surreal provokant kommt ihre Kurzbelletristik daher. Darin wimmelt es von seltsamen Tiergestalten, die wie fleischfressende Kaninchen alles Anheimelnde unterlaufen. Wenn eine Hyäne zivilisierte Dialoge zu führen vermag, heißt das auch keinesfalls, dass man ihr nahe kommen sollte. Sie will nämlich auf den Debütantenball und braucht dafür ein Menschengesicht, das sie mit einem Happs ihrem Opfer vom Kopf beißt.

    Nachtschwarze Stimmungen dieser Art grundieren die Texte der Autorin. "Es war", sagt die Protagonistin des erzählerischen Highlights mit dem Titel "Wie man ein Unternehmen gründet" oder "Der Gummisarkophag", in dem uns die magische Herkunft von Aspirin enthüllt wird, "es war, als ob meine Angst nicht eigentlich die meinige war, sondern irgendwie aus jenem fernen, so verrufenen 20. Jahrhundert stammte."

    Dieser Text, geschrieben bereits vierzig Jahre vor Ende des 20. Jahrhunderts und in der Zukunft angesiedelt, spielt in einer entelektrifizierten Welt und spiegelt das generelle Unbehagen an einer Zivilisation wider, die alles naturwissenschaftlich-technisch begreift, dabei aber die allumfassende Angst – ein Grundphänomen menschlicher Existenz – weder zu erklären, noch zu lindern vermag. Im Gegenteil, aus der technischen Allmacht erwachsen neue Ängste. Das erkannten die Surrealisten früh, denn der Mensch wird nicht größer mit seiner Allmacht, sondern schrumpft neben den vielen Maschinen auf Zwergenmaß. Die Literatur der wider Willen psychiatrieerfahrenen Leonora Carrington – der reiche Vater ließ sie mehrfach wegen psychotischer Episoden hospitalisieren – ist nachgerade vollgesogen mit Ängsten, und in einer weiteren Science-Fiction-Story prägt sie den treffenden Begriff "Ärzte für Meta-Fleisch". Gemeint sind damit Psychiater, die eben über das Organische hinaus nichts begreifen können und dort, wo es endet, nur eine Ableitung davon zu erkennen vermögen: Seelen als Metafleisch.

    Liest man die versammelten Texte, so ähnelt dies mehr einem Gang durch ein Museum als kalkulierbarer Lektüre. Jede Geschichte stößt die Tür zu einer unerwarteten Welt auf. Deren Ingredienzien gleichen sich zwar oft – Pferde kommen zuhauf vor, und die Bekleidung der Figuren erinnert an leicht angestaubte Operninszenierungen mit viel Damast und Brokat –, doch läuft das szenische Geschehen stets in ungeahnte Richtungen ab. So manches, was die koboldhafte Carrington im Laufe ihres langen Lebens wachträumend zu Papier gebracht hat, lässt freilich Gouvernanten den silbernen Kaffeelöffel verschlucken; genau das war vermutlich das erste Ziel dieser widerständigen Literatur.

    Heute gibt es keine Gouvernanten mehr, weswegen man nicht falsch liegt, wenn man solche Texte kaum mehr von jemandem erwartet. Ein Juwel der Einzigartigkeit.