Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Treue Anhänger trotz Krise

Für Estland war der Beitritt in die Eurozone vor knapp einem Jahr der Ritterschlag. Und die Bilanz des baltischen Landes fällt gut aus: Regierung und ein Großteil der Bevölkerung sehen die Vorteile, auch wenn die Beteiligung am Euro-Rettungsschirm EFSF eine bittere Pille war.

Von Matthias Kolb | 28.12.2011
    Im estnischen Finanzministerium herrscht gute Stimmung. Von seinem Büro im achten Stock aus wacht Jürgen Ligi über Einnahmen und Ausgaben der Ostsee-Republik. Ein Jahr nach der Einführung des Euro zieht der Finanzminister eine positive Bilanz:

    "Ich bin zufrieden und die Regierung ist es auch. Wir bereuen es nicht, der Eurozone beigetreten zu sein. Unsere Wirtschaftsentwicklung beweist, dass die Entscheidung richtig war: Sie ist zuletzt um acht Prozent gewachsen und das liegt auch an dem zusätzlichen Vertrauen, das die Investoren nun in uns setzen."
    Der Finanzminister gehörte neben Regierungschef Andrus Ansip zu den vehementesten Befürwortern der Euro-Einführung. Sie sei nötig gewesen, um ausländische Investoren anzulocken und die eigene Exportindustrie zu stärken, argumentierten sie damals. Als Estlands Wirtschaft 2009 wegen der Finanzkrise um 14 Prozent schrumpfte, setzte die Regierung Lohnsenkungen durch und kürzte die Staatsausgaben, um die Auflagen des Maastricht-Vertrags zu erfüllen und wettbewerbsfähig zu bleiben. In der aktuellen Schuldenkrise unterstützt Ligi die Position von Kanzlerin Angela Merkel uneingeschränkt:

    "Ich befürchte eher, dass die deutsche Dominanz nicht stark genug ist. Estland beweist doch, wie wichtig Haushaltsdisziplin für den Erfolg eines Landes ist. Jene Länder, die viel zu viel ausgeben, müssen sparen."

    Der Finanzminister spricht aus einer starken Position: Kein anderes Euro-Mitgliedsland hat eine niedrigere Staatsverschuldung als Estland. Und Rating-Agenturen loben die frühere Sowjetrepublik für ihre Fiskalpolitik: Die Überschüsse aus den Boomjahren zwischen 2000 und 2007 wurden in einen Stabilisierungsfonds eingezahlt, der ein Neuntel des Bruttoinlandsprodukts beträgt. Für nötig, wenn auch in der Bevölkerung nicht populär, sieht Finanzminister Ligi den estnischen Beitrag zur Stabilisierung des Euro: Im Herbst stimmte das Parlament für die Beteiligung am Euro-Rettungsschirm EFSF. Im Fall der Fälle haftet Tallinn mit knapp zwei Milliarden Euro.

    "Wir sind Newcomer, die vorher nichts bezahlt haben. Deswegen ist unser Anteil am EFSF der höchste, wenn er ins Verhältnis zum Bruttosozialprodukt gesetzt wird. Für uns ist das sehr viel Geld, auch wenn sich der Betrag für deutsche Ohren eher nach dem einer Kleinstadt anhört."

    Unter den 1,3 Millionen Esten ist dieser Schritt ähnlich umstritten wie in Deutschland. Eine ältere Dame, die in der Altstadt von Tallinn Strickwaren verkauft, lehnt die Garantien ab:

    "Ich denke nicht, dass es gut ist, dass wir für Griechen und Portugiesen zahlen, denn sie haben Jahre lang über ihre Verhältnisse gelebt."

    Ein Kunde, der sich soeben Handschuhe gekauft hat, mischt sich ins Gespräch ein. Er klingt zwiespältig:

    "Eigentlich finde ich es richtig, solidarisch zu sein, doch zugleich ärgert es mich, dass ich als estnischer Rentner 300 Euro bekomme und ein Grieche im Ruhestand wesentlich mehr erhält. "

    Die jungen Esten sind pragmatischer: Sie vermissen die Estnische Krone nicht, sondern freuen sich, dass sie bei Reisen in Euroländern kein Geld mehr wechseln müssen. Es ist richtig, sich am Rettungsschirm zu beteiligen, sagt dieser Angestellte:

    "Wir erhalten über die Strukturhilfen drei Mal mehr aus Brüssel, als wir einzahlen. Nun ist es an der Zeit, etwas zurückzugeben. Wichtiger finde ich, dass Estland im Westen als Partner wahrgenommen wird – und nicht als kleines Land irgendwo in Osteuropa."

    Die Meinungen sind repräsentativ, meint Rainer Kattel von der Technischen Universität Tallinn. Anders als in Finnland sei in Estland keine euroskeptische Partei entstanden, welche die Bedenken der Bürger kanalisiert. Es gelingt der liberal-konservativen Regierung sehr gut, ihre neoliberale Politik als alternativlos darzustellen, urteilt Politologe Kattel. Leider seien weder die Medien noch die Gewerkschaften stark genug, um die dringend nötige Diskussion darüber auszulösen, wie sich die Abwanderung junger Akademiker verhindern ließe oder ob der magere Sozialstaat vielleicht ausgebaut werden sollte. Für Rainer Kattel entwickelt sich der estnische Politikstil zu einem Modell für andere osteuropäischen Länder:

    "Es ist ein äußerst pragmatisches Denken mit klaren Zielen, denen alles untergeordnet wird: "Lasst uns den Haushalt sanieren, lasst uns der Eurozone beitreten etc." Aber langfristig ist es für eine Gesellschaft nicht gut, wenn ihre politischen Eliten Debatten als überflüssig erachten."