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Treuer Erbe des Surrealismus

Wo immer er ausstellt, konfrontiert der britisch-indische Künstler Anish Kapoor die Besucher mit rätselhaften monumentalen Objekten. Ab heute zeigt der 58-Jährige im Berliner Gropius-Bau seine Werke - und stellt das Publikum erneut vor besondere Herausforderungen.

Von Carsten Probst | 18.05.2013
    Oft ist es nur eine einzige Arbeit, mit der Anish Kapoor vor sein Publikum tritt - diese hat dann Dimensionen, die alle Verhältnisse zu sprengen scheinen. Die PVC- und Stahlkonstruktion "Marsyas" in der Turbine Hall der Londoner Tate Modern galt 2002 als größte Skulptur, die auf englischem Boden je ausgeführt wurde; Kapoors "Leviathan", ein aufgeblasenes Objekt aus farbigem PVC, das in kleinerer Ausführung jetzt auch in der Berliner Ausstellung zu sehen ist, erstreckte sich 2011 über die gesamten 100 Meter Länge, 70 Meter Breite und 33 Meter lichte Höhe des Pariser Grand Palais. In der unfreiwilligen Beklommenheit, die einen angesichts der schieren Ausdehnung manch seiner Objekte überkommt, sieht Anish Kapoor keinen Selbstzweck seiner Arbeit, auch wenn es hin und wieder so wirken könnte.

    In Berlin hatte er bereits vor einigen Jahren für die Deutsche Guggenheim eine große eiförmige Skulptur aus verrostetem Stahl realisiert – seine Ausstellung im Martin-Gropius-Bau reiht dagegen viele seiner jüngeren Werkgruppen aneinander: Arbeiten mit konvexen Spiegeln, Skulpturen aus Flüssigbeton, Installationen aus blutrotem Wachs, die berühmte Kanone von 2009, die Patronen mit diesem Wachs in eine Raumecke feuert, eigentümliche, teilweise schauerlich anmutende Apparate, die in stoischer Bewegung dünne Schichten von rundgeschliffenen wächsernen Formen abschaben. Hier begegnet uns Kapoor eher in der britischen Tradition eines Künstlerdidakten, der uns etwas verdeutlichen will über Skulptur. Bei seinen monumentalen Werken bleibt immer ein Eindruck von etwas schwer Fassbarem, und dass es sich entzieht, ist natürlich vom Künstler beabsichtigt.

    Jede Skulptur sehe aber schließlich von unterschiedlichen Blickwinkeln anders aus, sagt Kapoor, man muss um sie herumgehen, um sie wirklich zu erfassen. Diese Eigenschaft, nie auf einen Blick erfassbar zu sein, nutzt Kapoor gern, um sie zu verrätseln und erweist sich darin als durchaus treuer Erbe des Surrealismus. Auch fügt er ihnen gern mythologische oder philosophische Titel für seine Arbeiten hinzu, mit denen er bisweilen auch eher sehr weitere Felder von Interpretationen öffnet, als sie einzuschränken. Sein "Leviathan" wurde in Paris 2011 dadurch einerseits auf die Staatsphilosophie des Thomas Hobbes bezogen. Kapoors gigantische, semiorganische Skulptur wirkte damals für manchen wie ein Abgesang auf den autoritären Staat, ein ausgelaugtes Staatsmonster. Hier in Berlin, im Martin-Gropius-Bau, direkt neben dem einstigen Gestapo-Gelände, sind Deutungen entlang der deutschen Geschichte schnell bei der Hand. Hier ist die PVC-Hülle des "Leviathan" braun - Anspielung also auf das zusammengebrochene Nazireich? Daher womöglich auch die vielen blutroten Wachsskulpturen? Will Kapoor hier in Berlin ein Panorama des blutigen Totalitarismus öffnen?

    Die Arbeit, die Kapoor eigens für den großen Lichthof des Martin-Gropius-Baus ersonnen hat, macht keine Ausnahme, was das Rätselraten angeht: "Symphony for a Beloved Sun" - Symphonie für eine Geliebte Sonne nennt er diese Großinstallation, die aus mehreren langen Förderbändern besteht, die aus verschiedenen Löchern große Batzen aus blutrotem Wachs zutage fördern und sie aus einigen Metern Höhe auf den Boden des Lichthofs klatschen lassen. Bis zum Ende der Ausstellung werden sich somit einige stattliche Berge dieses Wachses angesammelt haben. Über allem thront ein gewaltiges rotes Rund der Sonne. Die Förderbänder mögen als Reminiszenz an das industrielle Berlin vor dem Zweiten Weltkrieg gedacht sein, vielleicht auch an die industriell betriebene Vernichtung der europäischen Juden - Kapoor selbst hat mütterlicherseits jüdische Wurzeln. Die Sonne mag Anspielung auf den Kommunismus sein, auf Stalin vielleicht gar. Der Titel "Symphonie für eine Geliebte Sonne" könnte an Walter Ruttmanns Film "Symphonie der Großstadt" von 1927 erinnern wollen. Wie immer collagiert Anish Kapoor virtuos und mit scheinbar leichter Hand mögliche Bedeutungen, ortsbezogene Geschichte und das Faszinosum der maschinenhaften Anmutung und perfekten Produktion seiner Werke. Und wie immer weiß man am Ende nie ganz genau, was man davon halten soll.