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Trinkhallen-Tour im Ruhrgebiet
Avantgarde anne Bude

Bier, Zeitung und Neue Musik - kein Widerspruch für die Formation Die Verwechslung. Sie ist zwischen Unna und Duisburg auf Trinkhallen-Tour. Die Konzerte sind ein offenes Angebot, bei dem künstlerische und menschliche Begegnungen entstehen, die kein Konzertsaal bieten kann.

Von Torsten Möller | 14.08.2017
    Die Verwechslung auf Trinkhallen-Tour in Gelsenkirchen.
    Die Verwechslung auf Trinkhallen-Tour in Gelsenkirchen. (Deutschlandradio/Torsten Möller )
    Draußen das Signal eines Polizeiwagens, drinnen ein Trompeter und ein Saxophonist. Zusammen spinnen sie die Signal-Quarte fort, sind dabei umringt von einer Magazin-Auslage, einem großen Eis-Tiefkühler und diversen Kühlschränken – gefüllt mit Bier, Cola und Limo. Die schöne Szene spielt sich ab in Gelsenkirchen. Nahe des Hauptbahnhofs, unweit des Musiktheaters im Revier und der Schalker Fußballarena treffen sich Musiker und Zuhörer auf Augenhöhe – ohne große Bühne, in einer jener Trinkhallen, die ein Markenzeichen des Ruhrpotts sind. Hier gibt's, was man zum Leben braucht: Eine Dose Ravioli, Salzstangen, Eis fürs Kind, eine beachtliche Auswahl an Bier und Zigaretten. Hinz, Kunz, vielleicht auch ein Karlheinz treffen sich in der Trinkhalle – gerade das war besonders reizvoll für Florian Walter, den Organisator der Trinkhallentour.
    "Im Grunde ist das ein Ort, wo die Leute erstmal da bleiben, sich unterhalten, austauschen, und ein Ort, der offen ist für so was. Das haben wir erst mal gesagt, ganz naiv, ehrlich gesagt. Aber irgendwie hat es dann ganz gut funktioniert und dann haben wir es über die Jahre weiter entwickelt, auch professionalisiert auf eine Art. Und jetzt sind wir da, wo wir die Austauschprojekte mit anderen Regionen in Europa machen, die so gewisse Ähnlichkeiten mit dem Ruhrgebiet haben."
    Schleckeis als Trompetendämpfer
    Die durch die Ruhrgebiets-Trinkhallen tourende Bassklarinetten-Formation nennt sich Die Verwechslung. In Gelsenkirchen sind Gäste aus Belgien dabei: die Schlagzeugerin Karen Willems, der Trompeter Bart Maris und der Gitarrist Valentin Becmann. Mal spielen die Musiker im Duett, mal im Trio, dann wieder alle zusammen. Frei improvisierend, unprätentiös geht es zu. Der Trompeter Bart Maris geht spielend durchs Publikum, spielt auch mal aus der Ferne vor der Trinkhalle. Auf seinem Weg nimmt Maris ein Eis aus dem Tiefkühler. Erst missbraucht er es als Dämpfer, dann gibt er es einem erfreuten Kind. Fünf Minuten dauern die Stückchen in etwa, lassen so Raum für Applaus oder amüsante Titel-Ansagen, etwa in Form eines aktuellen "North Korean Texas Barbecue" oder eines "Cry Baby, Cry", das anspielt auf die Trinkhalle im Essener Stadtteil Kray.
    Im Unvorhersehbaren besteht der besondere Reiz
    Das, was die sehr guten Musiker gekonnt improvisieren, ist schwer auf einen Nenner zu bringen. Manchmal gibt es klare Rhythmen, Grooves zum Mitwippen, dann wieder ruhig getragene Passagen, im nächsten Moment exaltierte Free-Jazz-Einlagen oder avantgardistische Klang- und Geräuscherkundungen im Sinne experimenteller Musik. Im Unvorhersehbaren besteht der besondere Reiz der etwa 50-minütigen Auftritte. Und natürlich ist auch dieses Ambiente wichtig mitsamt lockerer Unbekümmertheit. Der Klarinettist Lutz Streun:
    "Ich habe schon ganz oft gehört in der Jazz-Szene, dass Leute mit ganz viel Respekt ins Konzert gehen, oder auch in der Neuen Musik. Sie haben sogar Angst zu husten. Und hier ist es das Gegenteil. Wenn die Leute husten, freuen wir uns. Es ist Teil unserer Musik. Das bringt es vielleicht auch so ein bisschen auf den Punkt. Es ist genau das Gegenteil als ernste Musik. Natürlich nehmen wir das sehr ernst, was wir machen. Unsere Ohren sind offen und wir sind sehr konzentriert. Aber diese Lockerheit ist extremst wichtig."
    "Watt issen hier los?"
    Kritik am Trinkhallenkonzept könnte es geben: Dass man einfach so in die Lebenswelt von Mitmenschen eingreift, dass man vermeintlich Kunstfremden einfach etwas aufdrängt, das sie vielleicht gar nicht wollen. Doch vor Ort, in den Trinkhallen, zerschlagen sich die Bedenken: Ein westfälisch knappes "Watt issen hier los?" hört man in den Konzertpausen oder die jugendlichere Variante "Was geht denn hier ab?" Sicher mehr als die Hälfte der etwa 50 Zuhörer reisten extra an. Zwischen den engen Hörerreihen mischen sich aber auch neugierige Kinder, junge Skater, die sich gerade eine Cola kaufen wollten oder redselige ältere Herren nach dem dritten oder vierten Feierabend-Bier. Eine Frau kam fürs Konzert extra aus Bochum nach Gelsenkirchen. Sie findet wichtig:
    "Schwellen niedrig zu halten für Leute, die gar nicht damit rechnen. Es waren ja vorher auch ein paar Besucher da, die gar nicht damit rechneten, zu so schräger Musik zu kommen. Die dann ihr Zeug kauften, kurz stehen blieben und ein bisschen hörten, was passiert. Und das ist schon das sehr attraktive an dem Format, denke ich."
    Florian Walter, Organisator der Tour und mitspielender Klarinettist, versteht seine Trinkhallen-Konzerte als offenes Angebot. Er weiß, dass keiner in die Köpfe der Hörer blicken kann. Manchmal gibt’s eben größeres Befremden, ein andermal unvermutete Begeisterung älterer Damen oder Herren. Die Offenheit der Musik und der Konzertsituation ruft aber offenbar etwas hervor. Für einen Mann um die 45 geht es nicht nur um Musik, sondern auch darum:
    "Die Trinkhallen-Kultur aufrecht zu erhalten. Ich meine davon gehört zu haben, dass die Trinkhallen im Ruhrgebiet im Allgemeinen doch sehr, ja, einen schwierigen Stand haben und einige von der Schließung betroffen sind aufgrund der 24 Stunden Tankstellen. Und das ist vielleicht ein Grund, warum das in den Trinkhallen so stattfindet."
    Stärken einer freien Szene
    Die Trinkhallen-Tour offenbart die Stärken einer freien Szene. Fern aller institutioneller Zwänge, fern allen Kunst schädlichen Quotendrucks oder oft erzwungenen Vermittlungsgedanken zeigt sich, was Musik bewegen kann. Sie ist mehr als Ornament, sie kann verbinden, Welten öffnen, durchaus auch glücklich machen. Florian Walter kann lange und schöne Geschichten erzählen von der Trinkhallen-Tour. Von tollen Orten, von mancher Tristesse im nördlichen Ruhrgebiet, und auch von einschneidenden musikalisch-persönlichen Erfahrungen zwischen Duisburg und Unna:
    "Ich erinnere mich an eine alte Dame in Dortmund. Da kam so eine alte Frau an so einem Rollator und die war wirklich so vom Leben gezeichnet - möchte ich mal sagen. Die kam so hinterher an und sagte: Das Stück, das sie da gespielt haben, das hat mir echt den Tag gerettet heute. Und dann habe ich ihr so ins Gesicht geguckt und dachte: Wow, krass, ja! Und sie konnte dann aber auch genau sagen, warum, und was sie jetzt an dem Stück so berührt hat. Und dann dachte ich, das ist so toll, das hatte ich vielleicht noch nie erlebt so."