Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Trio Mannequin Pussy
Melodien und Kontrollverlust

Mannequin Pussy gehört zu den spannendsten Acts der amerikanischen Punk-Szene. Die Band aus Philadelphia verbindet brachialen Hardcore mit melodischem Indierock. Die Pandemie-Zwangspause hat das Trio genutzt, um neue Songs für seine EP "Perfect" aufzunehmen.

Von Anke Behlert | 06.06.2021
Ein Mann (li.) und zwei Frauen stehen vor einer roten Wand und albern herum.
(V.l.:) Colins „Bear“ Regisford, Marisa Dabice, Kaleen Reading - das Trio Mannequin Pussy (Phobymo)
Musik: "Perfect"
Ein bisschen frustrierend sei es schon gewesen sagt Marisa Dabice, Gitarristin und Frontfrau von Mannequin Pussy: Gerade hatte ihre Band angefangen, mit Musik genügend Geld zu verdienen, Konzerte waren geplant und dann kam die Pandemie. Heute arbeiten alle drei Mitglieder tagsüber in anderen Jobs: sie selbst und Bassist Colins "Bear" Regisford bei einer Umzugsfirma, Schlagzeugerin Kaleen Reading an einem Internat. Aber die drei haben ihren Frust über Isolation und Langeweile nicht in sich hineingefressen, sondern in fünf neue Songs für ihre EP "Perfect" fließen lassen.
"Es geht um die Frage: was ist perfekt und 2020 war das genaue Gegenteil von perfekt. Wir sind normalerweise keine besonders ironische Band, aber wir fanden es witzig und passend, etwas "Perfect" zu nennen, nach diesem unterdurchschnittlichem Jahr."
Musik: "Perfect"
Angefangen hat Mannequin Pussy schon 2010, zunächst als Duo von Marisa Dabice und ihrem Schulfreund Thanasi Paul, der aber vor einigen Monaten die Gruppe verlassen hat.
"Als ich 23 war, hatte meine Mutter einen Herzinfarkt. Ich bin zurück nach Hause gezogen, um mich um sie zu kümmern. Außerdem habe ich angefangen, Gitarre zu spielen und Songs zu schreiben. Ich war zwar nicht besonders gut darin, aber es fiel mir leicht, all diese Gefühle, über die ich mit niemandem sprach, in Songs auszudrücken. Thanasi lebte damals in New York, ich bin mit dem Zug in die Stadt gefahren und wir haben zusammen gejammt. Es war nur ein Hobby, aber irgendwann haben wir ein Album aufgenommen und sind auf Tour gegangen und ich dachte: Wow, Musik machen fühlt sich großartig an!"
Musik: "Terror no"

Intensive, kurze Ausbrüche

2014 erscheint das erste selbstbetitelte Album, 2016 der Nachfolger "Romantic". Ganz in Punkrock-Tradition sind ihre Songs laute, intensive Ausbrüche und nach ca. eineinhalb Minuten schon wieder vorbei. Dafür ist das Tempo halsbrecherisch: maximal verzerrte Powerchords von der Gitarre, das Schlagzeug brettert nach vorn, Dabice lässt ihre ganze Wut am Mikro aus, in das sie meistens eher schreit als singt. Das ist so voller Energie, dass man sich fast schon ein bisschen überfahren fühlt.
Musik: "Meatslave one"
Das 2019er-Album "Patience" schlägt erstmals auch poppigere Töne an, die Kompositionen sind sorgfältiger strukturiert: weniger Kontrollverlust, mehr Melodie. Auch die Fans sind begeistert und mit "Drunk II" haben Mannequin Pussy einen kleinen Underground-Hit, in dem sich Dabice zu melancholischen Riffs durch ein Beziehungsende arbeitet: mal zerbrechlich und voller Schmerz, mal mit ausgestrecktem Mittelfinger.
Musik: "Drunk II"

Feedback in Echtzeit

Der intuitiv-zugängliche Sound von "Patience" täuscht darüber hinweg, dass sie die Songs für das Album nochmal komplett neu aufgenommen haben, nachdem sie mit der ersten Variante nicht zufrieden waren. Möglich gemacht hat das die finanzielle Unterstützung des renommierten Punkrock-Labels Epitaph, bei dem sie seit 2019 unter Vertrag sind. Dort wurden sie auch bei der ungewohnten Herangehensweise an die neuen Songs unterstützt.
"Wir haben versucht, getrennt zu schreiben und uns Ideen zu schicken, aber das hat einfach nicht funktioniert. Und wir konnten die Songs natürlich auch nicht live testen, wie sonst. Wir haben Epitaph also gefragt, ob wir es im Studio versuchen können. Kaleen, Bear, ich und unser alter Gitarrist Thanasi haben uns mit dem Produzenten Will Yip getroffen und versucht, so schnell wie möglich, Songs zu schreiben. So etwas hatten wir vorher noch nicht gemacht."
Mit Produzent Will Yip hatten sie schon an "Patience" gearbeitet.
"Eigentlich sind wir beim Schreiben unter uns, aber dieses Mal war Will gleich mit dabei. Er hat uns zugehört und in Echtzeit Feedback gegeben, zu Dingen die er mochte. Es war sehr hilfreich, ein neutrales Ohr dabei zu haben und jemanden, der uns ein bisschen in die richtige Richtung lenkt."
Musik: "Control"
In den Songs auf "Perfect" zeigen sie die ganze Bandbreite ihres kompositorischen Könnens: Laut/leise-Dynamik mit Spannungsaufbau und erlösendem Refrain, dramatischer Powerpop, kathartische Scream-Nummern und das leiseste Stück der bisherigen Bandgeschichte: "Darling".
Musik: "Darling"
Mannequin Pussy haben im Studio die ganze Einsamkeit, den Ärger und die Hilflosigkeit in fünf eindringliche Songs gepackt. Trotz Covid-Zwangspause haben sie nichts an Intensität eingebüßt.