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Triumph der Erinnerung

1937 tobt in Spanien der Bürgerkrieg: die kulturelle Aufbruchsstimmung der 20er Jahre und der Traum einer liberalen Republik sind längst zerstoben, Massaker und blutige Kämpfe zermürben das Land. Das faschistische Italien beliefert General Franco mit Waffen und beschließt die Entsendung eines neuen Diplomaten nach Mallorca, wo der Krieg bereits entschieden ist. Der Konsul Luigi Ferdinando Baldaro, Abkömmling eines großbürgerlichen neapolitanischen Geschlechts, lange Zeit mit Regierungsgeschäften in China betraut und ein gewandter Kosmopolit, reist mit seiner eleganten Gattin und einem Neugeborenen per Schiff auf die Insel. Auf der Korvette macht er die Bekanntschaft der Señora Son Batle, auf deren herrschaftlichem Besitz er später mit seiner Familie Wohnung nehmen wird. Die fettleibige Señora, einst eine Schönheit und jetzt ruhelos auf den Weltmeeren unterwegs, umweht ein tragisches Schicksal. Doch als Tochter eines mallorquinischen Großgrundbesitzers ist sie für die Aufmerksamkeiten eines galanten Herrn empfänglich: der formvollendete Handkuss des Konsuls öffnet ihr das Herz.

Von Maike Albath | 19.09.2004
    Drei Arten des Handkusses gab es, aus denen man unfehlbar auf die gesellschaftliche Schicht dessen schließen konnte, der ihn ausführte. Manche vollzogen diesen Ritus mit einer Gemessenheit, einer Eleganz und einem Abstand, woran man sogleich erkannte, dass ihnen von Kindheit an all diese Regeln eingeschärft worden waren, deren Probe aufs Exempel gewissermaßen der Handkuss darstellte. Noch nie in ihrem Leben hatten sie einer Dame die Hand gedrückt, vom Handkuss konnten sie nur zur Zärtlichkeit übergehen. Als die Mode aufkam, den Damen die Hand zu schütteln wie am Ende einer Tennispartie, verschmähten sie daher die Neuerung oder konnten sie gar nicht lernen. Und als die Mode sich zum Brauch wandelte, schlich sich in den Handkuss jener Herren eine Art pedantische Steifheit und feierliche Bestimmtheit ein, so als handle es sich nicht mehr um einen rituellen Akt der Höflichkeit, sondern um ein Glaubensbekenntnis. Dann gab es noch den Handkuss des Parvenus: zu hoch oder zu tief oder zu hölzern, oder aber gewunden und lasch; jedenfalls konnte man daraus entnehmen, dass sie die guten Manieren erst kürzlich erlernt hatten und dass sich ihre Körper in ihrer Jugend nicht der Morgengymnastik oder dem Tennisspiel gewidmet hatten, ihre Seelen nicht der Kunst, in den Salons schöne Frauen zu umgarnen und bald auf der Höhe des Handgelenks, bald an den Fingerspitzen, bald im Grübchen zwischen den Knöcheln die Grenze zwischen Körper und Seele zu streifen. Schließlich gab es noch den Handkuss des Konsuls, der weder der des geborenen Herrn war noch der des Parvenus, sondern eher der des Schauspielers. Das Auge lächelte ironisch, und mit ihm der ganze Körper in der Kurve der Verbeugung. Der Konsul nämlich hatte durch seine Lebenserfahrung und seinen Beruf Gelegenheit gehabt, gleichzeitig die Raffinesse der guten Manieren und die Arroganz der Privilegien, die sie bemänteln, zu lernen.

    Mit einer feinsinnigen Typologie des Handkusses, in dem sich das 19. Jahrhundert exemplarisch verdichtet, eröffnet die neapolitanische Schriftstellerin Fabrizia Ramondino ihre Kindheitserinnerungen. Blühende Mandelbäume heißt das dickleibige Alterswerk der 68jährigen mit einer Reminiszenz an die Flora ihres ersten Zuhauses, und es stellt eine bis in die feinsten motivischen Verästelungen durchkomponierte autobiographische Recherche dar. Wie großflächige impressionistische Gemälde wirken die Szenen, die in kreisenden Bewegungen eine versunkene Welt in den Blick nehmen, das verträumte Kinder-Ich auferstehen lassen oder mit ausschweifenden Beschreibungen aufwarten.

    Die fein ziselierte Oberfläche der Sprache, das spielerische Hin und Hergleiten zwischen Personen, Sinnesempfindungen und Landschaften und die assoziativ wirkenden Verknüpfungen sind nichts als ein Ablenkungsmanöver: in der Tiefenstruktur des Textes regiert ein ausgefeiltes Kompositionsprinzip. So ist es kein Zufall, dass ausgerechnet die Geschichte der Señora Son Batle den Auftakt bildet - ihr Schicksal könnte Gegenstand einer Novelle aus Boccaccios Dekameron sein, ein Lehrbeispiel für die trügerische Natur des Menschen. Als Kind besaß die Señora nämlich einen Makel: sie war mit einem kleinen Auswuchs auf dem Rücken geboren worden, der im Volksmund "Affenschwanz" genannt wird. Obwohl man ihr das nutzlose Anhängsel operativ entfernte, beschämte sie dieses Geheimnis ihres Körpers, weil es ihre Verwandtschaft mit der Tierwelt zu unterstreichen schien. Herangewachsen zu einer betörenden jungen Frau, begann ihr Vater sie zu missbrauchen, was ihre Überzeugung von der Janusköpfigkeit des Menschen bestätigte: tief im Innern herrscht das Animalische.

    Auch nach dem Tod des verhassten Vaters verweigerte sie sich der Ehe. Ihr Onkel, der Erzbischof von Mallorca, nahm die Entscheidung schweren Herzens hin, denn sie bedeutete das Aussterben der Familie. Doch in einem Akt grausamer Selbstbestrafung verliebte sie sich eines Tages in einen jungen Nichtsnutz, ihre Liebe blieb unerwidert, seine Drogensucht und Homosexualität brachen ihr schließlich das Herz. Seitdem streift die gezeichnete Frau durch europäische Hotels und ist auf Kreuzfahrtschiffen unterwegs. Ohne die Geschichte der Señora Son Batle zu kommentieren, führt der Konsul die neugewonnene Freundin in seine Kabine, wo seine Frau die kleine Tochter stillt: auch sie hat ein Affenschwänzchen auf dem Rücken. Die Señora legt dem Säugling ein Goldkettchen um den Hals und erklärt sich zur Patin des Mädchens. Dadurch ist das Geschick der kleinen Fabrizia mit dem der Señora Son Batle verbunden und zugleich das erzählerische Prinzip der Vergangenheitsrecherche auf den Punkt gebracht: Wiederholung und Wiederkehr sind zentrale Verfahren in der Poetik Fabrizia Ramondinos.

    Wie eine Abwendung des Bösen wirkt die Geste der mallorquinischen Patin, die den Makel zu einem Zeichen des Auserwähltseins umdeutet. Auch klingt etwas Archaisches an: die Brutalität, das Kreatürliche und mitnichten Unschuldige der infantilen Welt, die nach und nach vor unseren Augen auferstehen wird, lässt sich bereits erahnen. Wir tauchen ein in den versunkenen Kontinent der Kindheit, der aus Gerüchen, Licht und Stimmungen zu bestehen scheint.

    Es war August. Mit geschlossenen Fensterläden war das Haus am frühen Nachmittag, zur Stunde der Siesta, eine Flucht von Stockwerken in verschiedenen Abstufungen von Weiß, wenn spielerisch hie und da ein Luftzug es durchfuhr. Dann kletterte ich aus dem Bett, in das man mich zu gehen gezwungen hatte – selbst das Flattern des Moskitonetzes, vom Winde bewegt, schien zur Bewegung einzuladen -, und verfolgte die Luftströme, schlich durch die weißen Kulissen jenes menschenleeren Theaters. Manchmal gelangte ich an eine Tür, weit offengelassen, aus Zerstreutheit, zum Land hin, und zauderte einen Augenblick geblendet auf der Schwelle: die sonnige Stille erschreckte mich. Wie eine klagende Melodie rief mich das Zusammenspiel von Luft und Weiß ins Haus zurück, und bald im Laufschritt, bald auf Zehenspitzen strich ich durch die Zimmer. Es kam vor, dass ich auf meinem schlafwandlerischen Gang einem schlummernden Körper begegnete; ich schnupperte und erlauschte eine Mischung aus Schweiß und Atem. Wenn ich eine Stimme hörte, drückte ich mich flach an die Mauer oder kletterte darüber. Andere Male durchbrach keine Brise die Schwüle. Das Zimmer glich dann einem mit Damast ausgeschlagenen Schrein, und ich, aufgrund der Hitze schwer wie das darin aufbewahrte Gold, konnte mich nicht rühren, bis ich, schweißgebadet, den Blick im Moskitonetz verfangen, endlich einschlief.

    Das Zyklische der kindlichen Wahrnehmung bildet sich in der Form des Buches ab: keine epische Linearität bestimmt den Rhythmus, sondern ein kreisförmiges Erzählen wie im Märchen. Fabrizia Ramondino formuliert eine Grammatik der Erinnerung: jedes Bild löst ein weiteres aus, die temps perdu lagert sich in Sinneswahrnehmungen ab, der Zauber besteht in den ewigen Wiederholung. Mehr als berichtet und geschildert wird die infantile Welt tatsächlich herauf beschworen. So fügt sich Tableau an Tableau: da gibt es den wild wachsenden Garten mit seinen Fuchsien, Orchideen und Bougainvillen, die geliebte Kinderfrau Dida mit ihrer körperlichen Sinnlichkeit und dem pirouettenschlagenden Ehemann, der wegen seiner Tanzleidenschaft immer wieder von ihr gemaßregelt wird, den verrückten Vogelzüchter Ignasi, die Geschwister Carlito und Anita, aber auch Gegenstände wie Keramikschafe oder Seidenschachteln mit Zuckerzeug - allesamt Ingredienzien des mallorquinischen Alltags.

    Sie sind nicht hierarchisch geordnet, sondern absolut gleichwertig: leblose Gegenstände werden beseelt, ein Spielzeug kann eine ähnliche Macht entfalten wie eine Äußerung der Eltern, Papito und Mamita genannt. Das kleine Mädchen ist eine genaue Beobachterin. Den mysteriösen Handlungen der Erwachsenen schreibt sie fortwährend Bedeutung zu, wobei die Eigenschaften der jeweiligen Person auf die Dinge übergehen. Jemand, der das Wissen um abstrakte Inhalte in nachvollziehbare Vorgänge übersetzt, ist die Kinderfrau Dida.

    In der Faust, ins Taschentuch eingeknotet, im Brustwickel oder im wollnen Ärmel versteckt, trug Dida stets zu verschieden großen Zylindern zusammengerollte Geldbündel bei sich: diese zerknitterten, körperwarmen Geldscheine waren für mich das erste konkrete, beinahe essbare Bild von Geld, sie sahen wirklich aus wie Tütchen mit Esskastanien, getrockneten Feigen, Haselnüssen. Die Geldscheine dagegen, die ich, akkurat gefaltet, in der Brieftasche meines Vaters und der anderen Herren sah, kamen mir vor wie unwichtiges Papier. Dida leuchteten die Augen, wenn sie die Geldscheine zusammenrollte oder entrollte, und wenn sie jemanden bezahlen musste, bot sie ihm das Geld mit freimütiger Geste an, legte es ihm auf die ausgestreckte Hand, wie sie mir die Bohnensuppe reichte, wenn ich sie gelegentlich auf ihrem Hof besuchte. Bei den Herren dagegen war es, als gäben sie das Geld heimlich, fast als schämten sie sich. Dida steckte die Scheine mit ruhigem Besitzerstolz wieder in den Busen, die Herren dagegen ließen ihr Portemonnaie lässig in die Innentasche ihrer steifen Jacketts gleiten, fast als handelte es sich um eine Belanglosigkeit.

    Der direkte Weltzugang der Bäuerin und ihre bedingungslose Zuwendung schlagen die kleine Fabrizia in den Bann: am liebsten verbringt sie den Sonntag mit Dida auf ihrem Hof. Die Unmittelbarkeit in allen emotionalen Äußerungen, der Geschmack der einfachen Speisen, das Archaische der bäuerlichen Existenz üben auf die Diplomatentochter aus dem mondänen Haushalt eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Die Atmosphäre scheint merkwürdig zeitenthoben, und häufig gewinnen die Szenen eine mythische Qualität: der Garten regt die Einbildungskraft der kleinen Heldin an, Pflanzen und Tiere werden zu magischen Bezugspunkten ebenso wie ein erfundener Oger.

    Es gelingt Fabrizia Ramondino, die kindliche Seele auf ungeheuer eindringliche Art und Weise zu vergegenwärtigen. Ihre Erzählerstimme changiert zwischen der Sichtweise einer Drei- oder Vierjährigen und dem eingeweihten Erwachsenenblick, wobei keine Spaltung passiert – weder werden die kindlichen Ängste, Exorzismen und Phantasien abgewertet, noch kommt es zu einer süßlichen Verklärung des verlorenen Paradieses. Vielmehr deutet sich eine intime Verwandtschaft zwischen der infantilen Wahrnehmungsweise und der Ästhetik der Schriftstellerin an. Auch die tiefe Empfindung für die mallorquinische Sprache, die dem Kind ein anheimelndes Behütetsein vermittelt, antizipiert das Verständnis der sprachlichen Verfasstheit allen Denkens und Fühlens, wie es für die Autorin gelten wird.

    Überhaupt offenbart die sprachliche Verdreifachung der Begriffe ins Italienische, Kastilische und Mallorquinische geheime Verknüpfungen: das Kind, auf italienisch bambina, scheint mit einer Puppe, bambola verwandt zu sein, während die kastilische Sprache, in der sie niña heißt, sie in eine essbare Substanz verwandelt, weil sich die Tilde, das weiche "j", im Mund, wie das Kauen einer Speise anfühlt. Die verschiedenen Idiome beflügeln die Phantasie des kleinen Mädchens: sie erfindet Analogien, die jedes Mal eine zusätzliche Dimension ans Licht bringen.

    Ein spannungsreiches Gegengewicht zu der Zeitlosigkeit der ersten Erfahrungen schafft die Autorin durch einen äußeren Rahmen: sie arbeitet mit Zäsuren; markante Ereignisse setzen die mythische Verschmelzung von Zeit und Raum außer Kraft. Ohne auf einschlägiges Fachvokabular zurückzugreifen, erzählt die entwicklungspsychologisch geschulte Schriftstellerin immer wieder von den Etappen der klassischen Ichwerdung: auf ödipale Verschmelzungswünsche folgt die libidinöse Besetzung von Übergangsobjekten, ein mit dem Vater geschlossenes Verlöbnis wird wieder gelöst, Phasen der Konkurrenz mit der Mutter wechseln mit hingebungsvoller Identifikation, der Abschied der Kinderfrau bringt die erste tiefe Trennungserfahrung mit sich, und in der Schule muss die kleine Fabrizia eine Enttäuschung verkraften, als die Liebe zu einer Schulkameradin unerwidert bleibt, was letztendlich eine Stärkung ihrer eigenen Person bedeutet.

    Auf der anderen Seite skandieren äußere Faktoren das Kinderleben: So enden die frühen Jahre auf dem Anwesen Son Batle mit dem Eintritt in ein katholisches Mädcheninternat, es folgt der Umzug der Familie vom Land in die Stadt La Palma und schließlich der Abschied von der Insel nach dem Waffenstillstand von 1943. Die zwanzigjährige Diktatur Mussolinis wurde damals durch die bedingungslose Kapitulation des Präsidenten Badoglio beendet: die Alliierten landeten in Süditalien, der Diktor floh nach Salò, unter der deutschen Besatzung im Norden begann ein zäher Widerstandskampf. In Fabrizia Ramondinos Kindheitsroman fließen die historischen Koordinaten nicht mit ein – aus der Perspektive der Heldin ist der Krieg ein Abstraktum, ein dunkel grollendes Naturereignis, das höchstens in den Erinnerungen ihrer mallorquinischen Freunde an die guerra civil oder in den Briefen der Großmutter, die in Neapel Bombenangriffe mit erlebt, fassbar wird.

    Für die exzentrische Großmutter, die eine sinnliche Religiosität verkörpert, ihre Enkelin wie eine kleine Braut herausputzt, in weiße Spitze hüllt und in die Messe mitnimmt, hegt die Ich-Erzählerin eine besondere Vorliebe. Sie ist ein Fixstern ihrer Kindheit. Der Mutter gegenüber mit ihren feinen Kleidern, den Perlenketten, klappernden Absätzen und Zigarettenspitzen halten sich leidenschaftliche Vergötterung und vehemente Ablehnung die Waage. Wie eine Anthropologin beobachtet das Kind die Gepflogenheiten der Erwachsenenwelt.

    Nun glichen die auf dem Empfang versammelten Damen, die ich von der Hecke aus undeutlich sah, mit ihren Kleidern und dem Geplapper zwar eher Schmetterlingen und Vögeln aus dem Land der Riesen, doch hatten sie etwas Starres und Gefühlloses, Düsteres und Stummes an sich, das ich viele Jahre später in den Wachsfigurenkabinetten wiedergefunden habe; und obwohl sie sich bewegten und sprachen, war es, als würden ihre Gesten und Stimmen von einem Mechanismus gelenkt. Um so grauenhafter oder beunruhigender wirkten lebendige Details: ein zu langes, von einem Phantasiegehänge herabgezogenes Ohrläppchen, das Filigranmuster der Haare unter den Seidenstrümpfen, ein dreieckiges Hühnerauge, eingezwängt zwischen zwei Riemen einer Krokosandale mit hohem Gesundheitsabsatz; das in einem Pferdelächeln entblößte Zahnfleisch und das Glitzern der Goldplomben, mit denen die Karieslöcher gefüllt waren; ein Arm, auf dessen schwammige Unterseite die Zellulitis ein Bienenwabenmuster gezeichnet hatte; und vor allem das geheimnisvolle Seufzen, das ab und zu im Hintergrund das Geplapper begleitete wie ein quälendes Leitmotiv und das sich vielleicht allein durch die Wiederholung in einem trompe-l’œil-Effekt zu einer Klage ausweitete, die zu einem Röcheln verzerrt wurde.

    Wieder macht Fabrizia Ramondino eine kindliche Wahrnehmungsstrategie zu einem ästhetischen Verfahren. Das kleine Mädchen praktiziert eine Art pars-pro-toto–Blick, vergrößert einzelne Ausschnitte und überträgt sie stellvertretend auf die gesamte Person, was auf erzählerischer Ebene nachgebildet wird: die Froschperspektive offenbart das Groteske der Szenerie. Die Sprache der neapolitanischen Schriftstellerin ist von einer faszinierenden Fülle: die präzise Benennung der Phänomene wechselt mit bildhaften Ausdrücken, Abstrakta werden durch Metaphern konterkariert, die Sätze spinnen sich in einem lyrischen Andante fort. Wer ein Ohr für den von Maja Pflug wunderbar übersetzten einschmeichelnden Tonfall hat, sich dem schwebenden Rhythmus anvertraut und Gefallen an der südlichen Trägheit und dem gemächlichen Entrollen der Stilleben und Familienszenerien findet, verfällt dieser mallorquinischen Spurensuche. Sie mündet in die Erfahrung der Zeit und der eigenen Endlichkeit.

    Die Zeit maßen Uhren, Sanduhren, Glocken, Kastagnetten und Glöckchen, Händeklatschen. Zudem hingen überall Kalender. Die Zeit des Internats war nicht die gleiche wie in Son Batle. Sonne und Mond, Regen und Wind, Hitze und Kälte zählten hier nicht. In Son Batle mischte sich die Zeit mit dem Raum, besaß nicht wie im Internat eine eigene, beunruhigende Autonomie; sie war verbunden mit Verwandlungen, nicht mit Erhebungen und Abfolgen; sie war wie ein Gummiband, manchmal länger, manchmal kürzer; häufig war sie gänzlich aufgehoben: Wer wusste schon, wann und wie zum Beispiel ein bestimmter Tag begonnen hatte; manchmal waren ganze Tage wie fortgeblasen oder wie auf einem Zauberteppich davongeflogen. Der Kalender der Nonnen dagegen basierte nur auf der Woche; er war eine ständige Wiederholung, ein Abtöten des Lebens, ein dünkelhaftes Dosieren des Alltags, eine beschämende geistige Übung.

    Fabrizia Ramondino bevorzugt ein flächiges Erzählen ohne Dialoge; manchmal durchsetzt Figurenrede die schimmernde Textpartitur, aber außer den dann und wann eingeflochtenen Episoden oder Familienanekdoten gibt es kaum Handlung. Noch stärker als in ihrem großartigen Roman Althénopis, der zeitlich direkt an das neue Buch anknüpft, Neapel zum Gegenstand hatte und eine ganze Galerie skurriler Porträts lieferte, arbeitet Fabrizia Ramondino dieses Mal wie eine Malerin: in prächtiger Farbgebung mit großartigen Chiaro-Scuro-Effekten gestaltet sie die versunkene Seelenlandschaft der Kindheit detailgenau aus. Eine Motto aus Cervantes Don Quijote steht ihren literarischen Gemälden voran: ob es Dulcinea gäbe oder sie ein Traumbild sei, dürfe man nicht ergründen. Genauso ist es mit der Kindheit: ob Traumgespinst oder Wahrheit, das bleibt ein Geheimnis. Allein die Erinnerung zählt.

    Fabrizia Ramondino
    Blühende Mandelbäume. Frühe Jahre auf Mallorca
    Arche Verlag, 575 S., EUR 25,-