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Tropische Klanglandschaft

Die Münchner Biennale ist seit 22 Jahren eine Art Regenwald des neuen Musiktheaters. Der Komponist Peter Ruzicka koordinierte das von der Stadt an der Isar und zahlreichen Kooperationspartnern getragene Festival, das in diesem Jahr mit dem Großprojekt "Amazonas" aufwartete.

Von Frieder Reininghaus | 09.05.2010
    Wie eine dreisätzige Symphonie ist der lange Abend angelegt. Einer der Dramaturgen hat für den Kopfsatz (mit dem Titel "Tilt") ein paar Texthäppchen bei Walter Raleigh aufgepickt (Raleigh gründete 1584 in Virginia die erste englische Kolonie, brachte Kartoffel und Tabak nach Europa). Freilich verschwindet das sinnstiftende Wort in den Geräuschfeldern und hinter den übergroßen, verweichlicht-brutalen Darsteller-Visagen auf den Screens. Es verkrümelt sich zu vagem Programm im Hintergrund. Wie beim späten Nono. Und mindestens genauso teuer.

    "Tilt", das erste Hauptstück, stellt eine wuchtige Exposition zum dräuenden Problem Umweltzerstörung in den Raum; zugleich wird der zunehmend brutalisierte Ton unmittelbar – er wird selbst Agens von Zerstörung. Das akustische Design des Zerstörungssounds und die optische Aufbereitung erscheinen jedoch nicht themenspezifisch. Sie könnten mit gleicher, wenn nicht größerer Plausibilität dem Bericht von einem Flugzeug-Absturz dienen.

    Der Komponist Klaus Schedl befleißigte sich eines strukturell eher banalen Modells von Programmmusik aus dem Geist des 19. Jahrhunderts, das dazuhin das Thema verfehlt. Vernichtung kommt am Rio Negro heute kaum militaristisch-maschinenmäßig laut daher, sondern eher tückisch leise. Es wäre also wohl darum gegangen, einige Arten des Regens und des Feuerprasselns musikalisch neu zu erfassen.
    Der zweite Teil des Amazonas-Projekts ist eine Idylle. Annäherung an die "andere Erfahrung": Ein Text, der suggeriert, er sei aus dem Blickwinkel indigener Einwohner aus der Grenzregion von Nordbrasilien und Guinea verfasst, und der klingt, als hätte ihn eine wohlmeinende Studienrätin in inbrünstigen Nachtstunden erfunden. Verwinkelte Gazewände senken sich auf die weite Fläche der Reithalle herab und viele Projektoren erschaffen im Verbund mit Naturlaut-Imitaten und Tat Tabordas Klangteppich eine akustisch dekorative Dschungelwelt. Ein paar am Boden liegende Gestalten erinnern an Kollateralschäden der Kultivierung.

    Der Amazonas ist in Gefahr! Eine Menge Publikationen und verschiedene Konferenzen haben die Bedrohung des Regenwaldes durch Brandrodung, die Folgen der monströsen Rinderzucht und des Anbaus von Soja zur Fütterung chinesischer Schweine der Weltöffentlichkeit ins Gewissen geredet. Und wo solche Gefahren drohen, stehen allemal alsbald aufmerksame Künstler bereit. Sie werden von umsichtigen Organisationen wie dem Münchener Goethe-Institut, Kulturstiftungen der Bundesrepublik und der EU, von interessierten Firmen wie der Deutschen Bank und Medienpartnern wie Arte oder DeutschlandRadio gefördert – und machen sich dann ans Werk, verdichten und vertiefen die bereits allgemeinen Erkenntnisse. Und sie erheben die moralischen Gefühle der Gerechten.

    Als Höhepunkt der Nachlese ihrer Ausflüge in den brasilianischen Regenwald kredenzte die Münchener Inkasso-Gemeinschaft ein teuer illuminiertes Lehrstück (Scherzo und Finale des Projekts in einem): Ein Nachhilfeviertelstündchen Biochemie, eine kleine Portion Regionalwissenschaft sowie ein ökologisches Quartett in der Bütt: Ein von Naturrecht legitimierter Indianersprecher und eine moralisch aufgebrezelte Naturwissenschaftlerin treten gegen den zynischen Vertreter der Expansivwirtschaft und den platt-demagogischen Politiker an. Die und wir werden belehrt, dass der Kapitalismus seit 200 Jahren grundböse ist.

    Dieses finale Krippenspiel besitzt unmittelbare ästhetische Vorbilder – zum Beispiel in den Agitpropstücken wie "Die Lehren des Herrn Schwankewitz" oder "Kriselkreisel". An ihnen hat der andere Dramaturg des Amazonas-Projekts mitgewirkt, als er noch Kantor in Kreuzberg und führendes Mitglied des kommunistischen Studentenverbandes war. Der Mann hat offensichtlich ein gutes Gedächtnis, aber immer noch keinen guten Geschmack – jetzt endlich wird mit aufwendigen Mitteln realisiert, was sich damals mit denen von Straßen- und Studententheater begnügen musste. Ein später Triumph des Gangs durch die Institutionen! – Aber da warten nach gut vier Stunden am Ausgang auch schon die Sekttabletts. Die Blondinen lächeln uns zu mit der Mine: Alles gut! Solang die Künstler so ticken und ihr klatscht, wird sich schon nichts wirklich ändern.