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Ben Lerner: "Die Topeka Schule"
Trumpism als Roman

In seinem neuen Roman "Die Topeka Schule" geht der amerikanische Schriftsteller Ben Lerner den Ursachen der rhetorisch aufgeheizten politischen Gegenwart auf den Grund. Zugleich unternimmt er den Versuch, die Krise der Männlichkeit zu deuten.

Von Christoph Schröder | 05.11.2020
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Der Roman zur Trump-Präsidentschaft? "Die Topeka Schule von Ben Lerner" (Cover Suhrkamp Verlag, Hintergrund dpa/ Maurizio Gambarini)
Es ist eine Nacht, irgendwann in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre. In einer US-amerikanischen Kleinstadt treibt ein Boot auf einem künstlichen See. Auf dem Boot sind Adam Gordon und seine Freundin Amber. So jedenfalls glaubt es Adam. Er hat Amber den Rücken zugedreht und redet und redet. Als er sich umdreht, ist sie verschwunden. Offenbar ist sie über Bord gesprungen und nach Hause geschwommen.
Als Adam das Boot am Ufer vertäut hat und auf Socken leise das Reihenhaus durchstreift, wo er Amber vermutet, stellt er erst nach mehreren Minuten fest, dass er sich offensichtlich im falschen Gebäude befindet. Er sprintet zur Straße und springt in seinen Wagen. Von dort aus bemerkt Adam, dass Amber vor dem Nachbarhaus bereits auf ihn gewartet hat. "Wo hast Du denn gesteckt?", fragt sie nur.
Wie in einer Fernsehwerbung für Medikamente
Mit dieser rasanten Szene eröffnet Ben Lerner seinen Roman, und selbstverständlich hat die Episode symbolischen Charakter – zum einen im Hinblick auf die Austauschbarkeit amerikanischer Kleinstadtarchitektur, zum anderen als Ausdruck der inneren Desorientierung seines Protagonisten. Die Konfusion, das Auseinanderfallen dessen, was in einer früheren Zeit noch Bedeutung und Zusammenhalt gestiftet hat, ist das übergeordnete Thema von Ben Lerners Roman. Dieses Thema führt Lerner in zahlreichen Episoden und aus der Perspektive unterschiedlicher Figuren über mehrere Jahrzehnte hinweg vor.
Sein Protagonist Adam Gordon ist erfolgreiches Mitglied des Debattierclubs seiner Highschool. Die Wettbewerbe haben sich durch eine Technik verändert, die "Schnellsen" genannt wird. Ähnlich wie in einer Fernsehwerbung für Medikamente, in der die potentiellen Nebenwirkungen am Ende in Hochgeschwindigkeit heruntergespult werden, befeuern sich auch beim Schnellsen die Diskutanten mit einer Flut von in unverständlichem Tempo vorgetragenen Fakten. Es geht nicht um Argumentation, sondern um Überwältigung, nicht um Kompetenz, sondern um die effektivste Strategie in einem Krieg der Redeströme:
"Derartige Offenlegungen waren zur Verschleierung gedacht; sie setzten einen Informationen aus, die, sollte man die betreffende Institution herausfordern, wie ein übergangenes Argument in einer Debattierrunde behandelt würden – man hat die Stichhaltigkeit des Arguments bereits zugestanden, indem man nicht darauf eingegangen ist, als es vorgebracht wurde. Dass man keine Zeit dazu hatte, ist keine Ausrede."
Therapeuten in Gesprächstherapien
Man muss den Namen Donald Trump gar nicht erst aussprechen, um sich bewusst zu machen, dass Lerner in dieser semantischen Implosion, in der Nichtübereinstimmung von Zeichen und Bezeichnetem, die Wurzel der propagandistischen Schlachten erkennt, von denen die politische Landschaft der USA in der Gegenwart geprägt ist. Sprechakte und deren Bedeutung, der Umgang mit feindseliger Ansprache und die ständige Reflexion des eigenen Kommunikationsverhaltens sind zentrale Bestandteile von Lerners erzählerischer Strategie.
Das gilt auch für Adams Eltern, die in mehreren Kapiteln eine eigene, in der ersten Person gehaltene Stimme bekommen, um wiederum ihre eigene Biografie aufzuschlüsseln. Sie sind Intellektuelle von der Ostküste, die es aus beruflichen Gründen an das landesweit renommierte psychologische Institut in Topeka im ländlichen Kansas verschlagen hat. Beide, Jane und Jonathan, arbeiten als Therapeuten, sind aber auch selbst Teilnehmer von Gesprächstherapien. Jonathan arbeitet mit problematischen verstummten Jugendlichen, die er, da kommt das Motiv erneut ins Spiel, zum Sprechen über sich selbst bringt.
Aggressiv auftretender Männlichkeit
Jane wiederum landet mit einem feministischen Sachbuch einen Bestseller, woraufhin sie täglich mit Droh- und Beschimpfungsanrufen von Männern konfrontiert ist, die auch ihr zu diesem Zeitpunkt noch kleiner Sohn Adam hin und wieder mit anhören muss. Für den Umgang mit den Anrufern hat Jane ihre eigene Strategie entwickelt:
"Und das tat ich immer wieder, bat den Loser einfach immer wieder höflich, lauter zu sprechen. Vielleicht wiederholte er seine Botschaft ein-, zweimal, aber irgendwann wurde ihm der Klang seiner eigenen Stimme zu peinlich – vielleicht machte er sich auch Sorgen, dass ihn jemand zufällig hörte."
Das Scheitern von Kommunikation aufgrund einer zerstörten gemeinsamen Gesprächsbasis verbindet sich in "Die Topeka Schule" nach und nach mit einem Bild von, dem auszuweichen als unmöglich und dem etwas entgegenzusetzen gerade für einen Heranwachsenden mit Scham besetzt ist. Die Männer, als die sie hier stets in vielsagender Kursivschrift bezeichnet werden, dienen als negative Gegenentwürfe zu alldem, was aus Adam nicht werden soll. Zu diesem Zweck wird er von den Eltern durchanalysiert bis zur Erschöpfung.
Es gibt immer wieder hoch interessante Passagen in Lerners Roman, beispielsweise jene, in denen ein Champion der Debattierrunden Adam in die Geheimnisse des Trollens und der manipulativen Rede einweist. Das ist stark, weil Erkenntnis stiftend. Und stets geht es auch darum, wer in der Lage ist, seinem Gegenüber die eigenen rhetorischen Muster aufzuzwingen.
Hymnisch waren die Rezensionen
Als der jugendliche Adam seine Mutter eines Tages zu einem Vortrag begleitet, werden die beiden vor dem Veranstaltungsort von einer Gruppe religiöser Eiferer und klerikaler Schwulenhasser erwartet. Der pubertierende Adam spielt das Spiel der verbalen Provokation mit und wird dadurch in den Augen seiner Mutter zum Verlierer:
"Eine der Jüngerinnen sagte zu Adam, er sei eine Schwuchtel, und Adam nannte sie Bitch; ich konnte es nicht fassen. Inzwischen lachte die Frau gackernd und schrie zu mir: So einen Sohn haben Sie also großgezogen? Sie müssen ja mächtig stolz sein. Und obwohl ich wusste, dass es besser wäre zu schweigen, sagte ich: Nein, ich bin nicht stolz. Ich schäme mich, dass er so redet."
"Die Topeka Schule" ist ein autofiktionaler Roman. Die Lebensdaten von Adam Gordon, den man bereits aus Lerners Debütroman "Abschied von Atocha" kennt, stimmen mit denen des Autors überein, auch im Hinblick auf die Biografien und Berufe seiner Eltern. Lerners nicht-chronologisch erzählter Roman gehört zur derzeit modischen Gattung eines hybriden Erzählens zwischen Essay, Autobiografie und Prosa, für das beispielsweise auch die Schriftstellerin Maggie Nelson gefeiert wird.
Demonstrativ schemenhafte Figuren
Auch Lerners neuer Roman hat nach seinem Erscheinen hymnische Rezensionen bekommen. Ex-US-Präsident Barack Obama wird mit dem Satz zitiert, "Die Topeka Schule" habe "unsere Welt ein bisschen heller gemacht". Die hoch gehandelte Schriftstellerin Sally Rooney durfte ebenfalls ein Lobwort beisteuern und verstieg sich darin zu der Bemerkung, mit Lerners Buch sei die Zukunft des Romans angebrochen.
Sollte sie damit recht behalten, dann steht der Gattung Roman allerdings einiges bevor: Ben Lerner kümmert sich weder um eine sorgfältige Konstruktion noch um die Stringenz von Handlungssträngen. Seine Figuren bleiben, wie die von Sally Rooney im Übrigen auch, demonstrativ schemenhaft und eigenschaftslos. Stattdessen unterziehen sie sich selbst und gegenseitig einer dauerhaften und geschwätzigen Selbstanalyse und Selbstüberprüfung.
Wenn der deutsche Schriftsteller Leif Randt ein undurchschaubarer literarischer Pokerspieler ist, dem man unterstellen darf, er entlarve die Lebenswelten seiner Figuren, indem er sie unkommentiert Banalitäten aufsagen lässt, so ist Ben Lerner ein hochachtsamer Zeitgeistaufsauger, der allen Ernstes Sätze wie diese in seinen Roman schreibt:
"Das war in vieler Hinsicht die beschämendste aller Posen, die deutlichste Ausprägung einer Krise weißer Männlichkeit und ihrer Repräsentationssysteme, bei der eine kleine Gruppe privilegierter Weißer sehr oft arhythmisch die vorherrschenden Klischees der Genres recycelten."
Ist die Ironie mal wieder beendet?
Die Art, in der der in der Erzählgegenwart 40-jährige Adam das eigene Verhalten als Jugendlicher im Nachhinein der Selbstkritik unterzieht, wirkt wie ein pflichtbewusstes Flagellantentum. "Die Topeka Schule" ist ein redseliges, mühsam zu lesendes Buch, zwar streckenweise diagnostisch erhellend im Hinblick auf die politische Realität, gleichzeitig aber auch quälend beflissen in seiner leitartikelhaften Anschlussfähigkeit an die Diskurse.
Die Epoche der Ironie und der ausgehaltenen Ambivalenzen, auch das zeigt dieser Roman, ist in der Literatur offenbar vorerst beendet. "Die Topeka Schule" schließt mit der Formulierung einer Utopie: Die Öffentlichkeit möge nach dem Zeitalter des "Schnellsens" das Reden langsam wieder neu erlernen. Die unübersichtliche und konfrontativ aufgeheizte Lage, in der die USA sich noch oder erst recht nach den Präsidentschaftswahlen vom 3. November befinden, dürfte dieser Hoffnung nicht eben zuträglich sein.
Ben Lerner: "Die Topeka Schule"
Aus dem amerikanischen Englisch von Nikolaus Stingl
Suhrkamp, Berlin, 396 Seiten, 24 Euro.
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