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Tschechien
Politischer Kampf um eine alte Revolution

1989 beendete die Samtene Revolution das sozialistische Regime in der Tschechoslowakei. [*] Ob das die Geschichte zum Guten oder Schlechten für das Land wendete, darüber ist im heutigen Tschechien ein Kampf um die Deutungshoheit entbrannt.

Von Peter Lange | 29.10.2019
Hunderttausende demonstrieren in Prag gegen die tschechische Regierung
1989 demonstrierten die Menschen gegen das sozialistische Regime, 2019 gingen hunderttausende Tschechen gegen die Regierung von Andrej Babiš auf die Straße. ( Petr David Josek/AP/dpa )
Beim alljährlichen Diplomaten-Empfang am Vorabend des Staatsfeiertags gratulierte der tschechische Präsident Miloš Zeman den erschienenen Botschaftern auf der Prager Burg: Sie dürften in einem sehr erfolgreichen und schönen Land arbeiten. Wenn das zugleich eine Bilanz der letzten drei Jahrzehnte sein sollte, dann steht sie zumindest in einem gewissen Widerspruch zur Sichtweise von Andrej Babiš. Der Ministerpräsident von der ANO-Bewegung hatte schon im Frühjahr erklärt:
"Ich werde verdammt froh sein, wenn wir den 30. Jahrestag der Revolution feiern und die Medien dann endlich den jungen Menschen sagen, was hier seit der Revolution passiert ist: die Privatisierung, die Aushöhlung der Betriebe, die Skandale und die Korruption.
Versuche, Revolution vom November 1989 zu delegitimieren
Die Medien, die das erzählen, das sind vor allem die Tageszeitungen, die zum Mafra-Konzern gehören, der wiederum eine Tochter des Agrofert-Konzerns von Andrej Babiš ist. Allen voran die Mladá Fronta. Sie hat in eine lose Serie aufgesetzt mit dem Titel: 30 Jahre Freiheit – Skandale und Affären. In dieser Reihe wird zum Beispiel der Mord an einem Mafia-Boss rekapituliert. An einen Oligarchen wird erinnert, der mehrere Morde in Auftrag gegeben haben soll. Der Skandal um die Subventionierung der Solarenergie fällt in diese Rubrik. Und ein Kapitel hebt lobend hervor, dass unter den Kommunisten so wichtigen Bauten wie Atomkraftwerke entstanden sind. Der Eindruck, der sich festsetzen kann: die letzten drei Jahrzehnte müssen für Tschechien eine schlimme Zeit gewesen sein. Und die Frage, die sich unterschwellig anschließt: War die Revolution von 1989 ein Irrweg? Für einstige Regimegegner wie Fedor Gál ist das nichts Neues:
"Die Versuche, die Revolution vom November 1989 zu delegitimieren, gibt es hier seit 30 Jahren. Die erste Quelle dafür sind die Menschen, die sich an den Rand gedrängt fühlen. Die zweite Quelle sind ehemalige Stasi-Agenten. Hinzu kommen die Geheimdienste aus Russland, die sehr intensiv agieren. Und die vierte Quelle, und das erschreckt mich am meisten, ist der wiederbelebte Nationalismus mit allem, was dazugehört."
Die Mladá Fronta ist in den letzten Monaten aber noch einen Schritt weitergegangen: Sie präsentierte ganz besondere Zeitzeugen vom November 1989. Ein damaliger Leiter des kommunistischen Studentenverbands erklärte, dass die vorentscheidende Demonstration vom 17. November seine Idee gewesen sei. Das unabhängige Studentenkomitee schildert er als eine Gruppe, die vor allem damit beschäftigt gewesen sei, Whisky, Wein und amerikanische Zigaretten zu konsumieren. In einem anderen Gespräch behauptete ein ehemaliger Mitarbeiter der Staatssicherheit, dass er den Zug der Studenten am 17. November zur Nationalstraße geführt habe. Die Demo sei, so der Tenor, von der Stasi kontrolliert worden.
Die Revolutionäre von damals kämpfen um ihr politisches Erbe
Das brachte dann die Revolutionäre von damals doch in Rage. Alexandr Vondra, einer der Sprecher der Charta 77, sieht hinter dieser Version der Zeitgeschichte vor allem Andrej Babiš:
"Es regiert uns der STB-Mensch, und seine Presse bringt unglaubliche Fehlinterpretationen von dem, was 1989 geschah. Deswegen müssen die Teilnehmer des antikommunistischen Widerstands von damals den Kampf wieder aufnehmen."
Monika Pajerová, eine ehemalige Studentenführerin, tat, was sie auch damals tat: Sie setzte eine Protestresolution auf und sammelte Unterschriften von 50 prominenten Akteuren der Samtenen Revolution. Was die Mladá Fronta mache, sei der Versuch, die Integrität der Menschen in Frage zu stellen, die die Werte von 1989 konsequent verteidigten. Dass versucht wird, die Geschichte umzuschreiben, verwundert Monika Pajerová nicht. Die Täter, die Opfer und die Menschen dazwischen, die seien ja noch da, aber:
"Es tut wirklich weh, wenn man erklären muss, dass die Revolution wirklich eine Revolution war, dass das kommunistische Regime wirklich ein totalitäres Regime war, und dass diese Menschen wirklich Teil von dem ehemaligen Regime waren. Das tut wirklich weh."
Aber der Kampf um die Deutungshoheit wird auch nach den runden Jahrestagen weitergehen. Vermutlich hat er so richtig gerade erst begonnen.

[*] Anders als es im Teaser ursprünglich hieß, gehörte die sozialistische Tschechoslowakei zum Warschauer Vertrag, dem von der Sowjetunion angeführten Militärbündnis des sogenannten Ostblocks, der 1991 aufgelöst wurde