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Tschechien
Vom Manager zum Schuldner-Aktivisten

Als eine Freundin sich Geld bei ihm leihen wollte, begann der damalige Manager Radek Habl, sich mit privater Verschuldung und Zwangsvollstreckungen in Tschechien zu beschäftigen. Er machte die Dimension des Problems öffentlich und wurde so zum Wegbereiter für neue Regeln zur Privatinsolvenz.

Von Kilian Kirchgeßner | 21.04.2020
Der ehemalige Manager Radek Habl spricht vor einem Kamerateam
Der ehemalige Manager Radek Habl hat mit seinen Projekten viel Aufmerksamkeit auf die Überschuldung in Tschechien gelenkt (Deutschlandradio/Kilian Kirchgeßner )
Seinen Laptop hat Radek Habl heute unter einem Baum aufgeklappt, er schaut angestrengt auf den Bildschirm. Hinter ihm, am anderen Ende des perfekt gepflegten Gartens, erhebt sich eine imposante Villa aus der Gründerzeit. Ein paar junge Leute haben darin einen Co-Working-Space aufgemacht: eine Art Bürogemeinschaft, in der sich Freiberufler oder Autoren für wenig Geld einen Schreibtisch mieten können.
"Wir haben auch ein eigenes Büro nebenan, aber wir bauen gerade ein neues Team auf, alles ist in Bewegung; wir sind in der Gründungsphase."
"Man muss die Ausgaben in den Griff kriegen"
Radek Habl ist 40 Jahre alt, hier im Garten trägt er Surferlook: Die schwarzen Haare fallen schulterlang, dazu kurze Hosen und ein aufgeknöpftes Poloshirt. Ein Kontrast zu der Welt, in der er zu Hause war, bevor er sich der Welt der Zwangsvollstreckungen widmete: Er war Manager bei internationalen Konzernen.
"Ich habe mich schon immer mit Finanzen beschäftigt. Einer Firma geht es oft nicht so gut, wie es ihr gehen sollte; sie verkauft weniger als geplant. Also muss man Ausgaben kürzen, damit der Gewinn unverändert bleibt. Im Privaten ist das im Grunde genau gleich: Wenn man nicht genügend Einnahmen hat, muss man die Ausgaben besser in den Griff kriegen, muss Verträge neu verhandeln, unnötige Ausgaben verringern."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Tschechen in der Schuldenfalle.
Radek Habl gehört zu den Wegbereitern für die neuen tschechischen Regeln zur Privatinsolvenz. Bisher war er als Einzelkämpfer aktiv; jetzt gründet er eine gemeinnützige Organisation. Er greift zu einer Wasserkaraffe und bietet ein Glas an.
Freundin hatte Schulden bei 32 Gläubigern
Seine Geschichte mutet unwirklich an, hier im sonnendurchfluteten Park mitten in Prag. Denn vermutlich wäre Radek Habl heute noch Großkonzernmanager, wenn ihn nicht eines Tages eine Freundin angesprochen hätte:
"Sie wollte sich von mir 100.000 Kronen leihen, also etwa 4.000 Euro, weil sie verschuldet war. Sie dachte, sie hätte fünf, höchstens zehn Gläubiger. Ich habe gesagt: Ich leihe dir das Geld nicht einfach so, ich muss wissen, wie es um dich steht. Also habe ich anfangen, mich einzuarbeiten. Schnell war mir klar, wie schwierig es ist, überhaupt festzustellen, wo jemand überall Schulden hat. Wir mussten Emails und SMS-Nachrichten durchforsten, und nach zwei Wochen Arbeit haben wir gemerkt: Sie hat nicht 5 oder 10 Gläubiger, sondern 32 – sie hatte komplett den Überblick verloren."
"Ist vielleicht mein Nachbar betroffen?"
Und kaum sprach sich im Freundeskreis herum, dass Habl mit privaten Schulden beschäftigte, stand sein Telefon nicht mehr still.
"Auf einmal haben sich mir Leute mit gewaltigen Problemen offenbart, bei denen ich überhaupt nichts ahnte. Es waren sogar sehr enge Verwandte dabei, die zum Teil schon 20 Jahre lang in Schulden und Zwangsvollstreckungen steckten."
Er fing an, Daten aus ganz Tschechien zusammenzutragen, die bis dahin entweder nicht öffentlich zugänglich waren oder verstreut irgendwo in Datenbanken versteckt lagerten. Radek Habl erstellte eine Landkarte von ganz Tschechien, wo für jede einzelne Gemeinde aufgelistet ist, wie viele Zwangsvollstreckungen dort anhängig sind.
"Bis dahin gab es nur die Makro-Zahlen, und die haben niemandem wehgetan. Eine Million Menschen in Zwangsvollstreckung – das ist so abstrakt, so schwer vorstellbar. Also haben wir die Zahl in 6.000 kleine Zahlen unterteilt; so viele Gemeinden gibt es nämlich in Tschechien. Und wenn man sieht: Bei mir im Dorf sind 30 Leute in Zwangsvollstreckung, dann fängt man an, darüber nachzudenken. Ist nicht vielleicht mein Nachbar betroffen oder mein Kumpel? Wie könnte man helfen?"
TV-Serie "Beverly Hills" weckte Begehrlichkeiten
Und die Ergebnisse schlugen wirklich Wellen: Tschechische Journalisten standen Schlange bei Radek Habl, und der tauschte schließlich seinen alten Beruf gegen seine neue Berufung. Immer wieder, sagt er, treffe er auf Fälle, die ihre Wurzeln tief in den 1990er-Jahren hätten.
"Da haben wir Serien wie 'Beverly Hills' geschaut und wollten genauso leben. Das weckte die Sehnsucht: Die Leute haben mehr riskiert, sie haben Kredite aufgenommen, um ein Unternehmen zu gründen, und manchmal auch, um unnötige Dinge zu kaufen, damit es ihnen so geht wie in 'Beverly Hills'. Aber zugleich war der Markt überhaupt nicht darauf vorbereitet; das Kreditgewerbe war nicht reguliert, die Firmen haben angefangen, riesige Strafgebühren für kleinste Verstöße zu berechnen. Auf solche Praktiken war die Gesetzgebung nicht eingestellt; das änderte sich erst 2016, nach 26 Jahren."
Hürden für Privatinsolvenz gesenkt
Tatsächlich kam 2016 ein Gesetz, das Privatinsolvenzen ermöglichte. Es wurde jetzt, im Jahr 2019, nachgebessert: Die Hürden dafür, dass Schuldner nach fünf Jahren entschuldet weiterleben können, wurden gesenkt. Der Konsens durch die verschiedenen politischen Lager hindurch hat manche Beobachter erstaunt. Jan Farsky, Vorsitzender einer der konservativen Parteien, sagt dazu:
"Das geschah nicht aus purer Menschenliebe oder dem Gefühl, allen helfen zu wollen. Das Gesetz ist schlicht ein Selbsterhaltungs-Mechanismus: Ich will, dass die Gesellschaft gesundet. Es ist sozial gefährlich, wenn wir so viele Menschen in einer Schuldenfalle halten, ohne Chance, jemals herauszukommen."
Nach diesen ersten Erfolgen, an denen Radek Habl auch seinen Anteil hatte, will er jetzt weiterarbeiten an seiner Mission, hier vom Gartenstuhl aus: Jeder habe eine zweite Chance verdient.