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Tschechows Bühne

In einer neuen Inszenierung von Tschechows Ivanov am Hamburger Thalia Theater sehen die Zuschauer – neben vielem anderen, das sie so noch nie gesehen haben – im letzten Akt einen Doktor Lvov, der reichlich Blut in sein Taschentuch speit. Nach dem Willen der Regisseurin hat er also die Schwindsucht, an der bekanntlich auch Tschechow litt und starb. Tschechow war Arzt, und der Zuschauer soll Doktor Lvov offenbar als alter ego des Autors begreifen.

Von Brigitte van Kann | 15.07.2004
    Hätte man den Band Anton Tschechow. Über Theater, herausgegeben von Jutta Hercher und Peter Urban, zur Hand gehabt und vor dem Theaterbesuch in den beiden Ivanov-Kapiteln geblättert – man wäre für eine Diskussion über den Blut spuckenden Lvov gerüstet gewesen: Anton Tschechow zumindest hat den Arzt nicht zu seinem Sprachrohr gemacht, er nennt ihn in einem Brief an seinen Verleger Suvorin "die personifizierte Schablone, die gängige Tendenz", den Typ des "ehrenhaften, geraden, hitzigen, aber beschränkten und eingleisigen Menschen". "Wenn das Publikum", schreibt Tschechow, "das Theater im Bewusstsein verlässt, die Ivanovs seien Lumpen, die Doktor Lvovs dagegen große Menschen, dann muß ich meinen Abschied einreichen und meine Feder zum Teufel schicken."

    Der kleine Fall aus der Praxis des Theatergängers demonstriert den großen Vorteil dieser Text-Sammlung – Tschechows Äußerungen zum Theater, bislang disparat und schwer zu finden in Briefbänden und Einzelausgaben versteckt, sind hier zu einem benutzerfreundlichen Kompendium zusammengetragen. Wer die Bemerkungen des großen Russen zu seinen eigenen Stücken lesen möchte, findet sie nach Werktiteln geordnet. Wen Tschechows Meinung über Klassiker, Kritiker, Schauspieler und das Schreiben überhaupt interessiert, wird unter den entsprechenden Überschriften fündig. Als Dreingabe bekommt er das Repertoire des Moskauer Künstlertheaters, ausführliche Anmerkungen und ein Personenregister.

    Nun ist dieses Handbuch für Theaterliebhaber keineswegs nur eine Bündelung bereits ins Deutsche übersetzer Texte – es hat auch ein paar Premieren zu bieten: die Glossen, die Anton Tschechow in den Jahren 1883 bis 1885 für das humoristische Petersburger Wochenblatt "Oskolki" – zu deutsch: Splitter – geschrieben hat. Diese "Splitter des Moskauer Theaterlebens", so hieß die Rubrik, hat Peter Urban mit dem erforderlichen Ingrimm und Humor ins Deutsche gebracht: feuilletonistische Brotarbeiten des Medizinstudenten und schließlich des jungen Arztes Anton Tschechow, die ihn als scharfäugigen Beobachter ausweisen, als übermütigen, Kapriolen schlagenden Schreiber mit einer glühenden Hassliebe zum Theater. Einer Hassliebe, die ihn auch später nicht verließ, als selbst für die Bühne schrieb.

    Es muss dem jungen Tschechow Freude gemacht haben, sich in der Moskauer Theaterszene zu tummeln und die grotesken Leistungen der Schauspieler, die geschmacklosen Stücke, den rohen Geschäftssinn der Betreiber aufs Korn zu nehmen: man lese nur die beiden Glossen über den Geschäftemachter, der den Moskauer Zoo pachtet, um dort Operetten aufzuführen, angeblich, damit für die hungernden Tiere wieder Futter gekauft werden kann. Zuletzt hungern nicht nur die Tiere, sondern auch die Schauspieler, weil der Entrepreneur einfach nicht ans Zahlen denkt ...

    Die Glossen sind nicht nur frühe Proben von Tschechows Talent für Komik und Kürze; hinter allem Spott und Sarkasmus wird der Wunsch des jungen Autors nach einem echten – wie Tschechow es nennt: literarischen – Theater deutlich. Daß Literatur und Bühne in der Praxis schwierige Partner sind, bekommt er später, als seine Stücke inszeniert werden, am eigenen Leibe zu spüren:

    Anton Tschechow verstand sich als Anwalt beider Parteien: weder wollte er seine Arbeiten von Regie und Schauspielern verhunzt sehen, noch konnte er sich mit den niedrigen Niveau des russischen Theaters abfinden. Konflikte blieben nicht aus. Tschechow hat sich an ihnen bis zur Verzweiflung und völligen Erschöpfung abgearbeitet. Sind seine Bemerkungen und Erläuterungen zu den frühen Stücken noch leidenschaftlich und ausführlich, werden sie zuletzt immer knapper und es schwingt Resignation mit, wenn er seiner Frau Olga Knipper, Schauspielerin am Moskauer Künstlertheater, über die Inszenierung des "Kirschgartens" schreibt: "Ein Akt, der 12 Minuten maximum dauern soll, läuft bei euch 40 Minuten. Ich kann nur das Eine sagen: Stanislavskij hat mein Stück ruiniert. Nun ja, Gott mit ihm."

    Der Ruhm des Künstlertheaters und seiner Leiter Nemirovič-Dančenko und Stanislavskij gründete auf den Stücken Anton Tschechows; nach der triumphalen Premiere der Möwe, deren Uraufführung in Petersburg ein Desaster gewesen war, führte das Haus sogar eine stilisierte Möwe in seinem Emblem – was die sowjetische Kulturbürokratie später nicht daran hinderte, ausgerechnet diese Bühne nach Maksim Gorkij zu benennen.

    Wie sehr Anton Tschechow, trotz der rauschenden Erfolge, bisweilen mit dem Künstlertheater haderte, zeigen seine Briefe an Olga Knipper, geschrieben nur wenige Monate vor seinem Tod: "Nemirovič und Stanislavskij sehen in meinem Stück ganz und gar nicht das, was ich geschrieben habe, und ich bin bereit, jede beliebige Wette einzugehen, daß beide mein Stück kein einziges Mal aufmerksam gelesen haben."

    Der Kampf des Autors mit den Theatermachern, die Verteidigung der Literatur gegen den fahrlässigen Leichtsinn der flatterhaften Theatermuse entbehrte nicht einer gewissen Komik, hätte man nicht das Bild des todkranken Tschechow vor Augen, der, wegen seiner Krankheit zu einem einsamen Leben in Jalta verdammt, aus der Ferne versuchte, das Schlimmste zu verhindern. Er liebte Genauigkeit und Klarheit – der leichtfertige Umgang mit dem geschriebenen Wort, die oberflächliche Lektüre seiner präzisen Regieanweisungen muss ihn sehr gekränkt haben: "Es ist alles aufgeschrieben", beschied er Schauspieler und Regisseure knapp, die ihn unnötig mit Fragen bestürmten. Dass die Zuschauer in seinen Stücken weinten, verdross ihn, und er lastete es Stanislavskij an: der habe sie so weinerlich gemacht. Seinen "Kirschgarten" nannte der Autor eine Komödie, das Künstlertheater bezeichnete das Stück hartnäckig als Drama – und spielte es wohl auch so.

    "Ich habe mit dem Theater so wenig, so wenig Glück, daß wir, wenn ich eine Schauspielerin heiraten würde, sicherlich einen Orang-Utan bekommen würden oder ein Stachelschwein", schrieb Anton Tschechow 1898 einer befreundeten Schriftstellerin. Eine Schauspielerin heiratete er tatsächlich, zu den befürchteten Missgeburten kam es nicht. Dafür sind die Stücke, die Früchte seiner konfliktreichen, bisweilen tragikomischen Beziehung mit dem Theater, ansehnlich und frisch bis auf den heutigen Tag. Die bewegende Geschichte dieser Beziehung haben Jutta Hercher und Peter Urban in ihrem Vademecum für den Theaterfreund zusammengetragen.

    Anton Tschechow
    Über Theater
    Verlag der Autoren, 340 S., EUR 24,-