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"Tschetschenienkonflikt wird uns noch über Jahre beschäftigen"

Christine Heuer: Am Telefon ist Klaus Segbers, Politologe am Osteuropa Institut der FU Berlin. Guten Tag, Professor Segbers.

Moderation: Christine Heuer | 02.09.2004
    Klau Segbers: Guten Tag.

    Heuer: Was kann die russische Regierung in dieser Situation eigentlich tun?

    Segbers: Sie kann in etwa das tun, was sie wohl versucht, wie wir seit gestern beobachten, nämlich immer wieder zumindest Anläufe zu unternehmen, doch in Gespräche, in Kontakte zu kommen und auszutesten, ob es mögliche Einigungsvarianten gibt. Sie wird mit Sicherheit nicht auf die Forderung eingehen, die Streitkräfte und die Sicherheitskräfte Russlands aus Tschetschenien zurückzuziehen, das steht nicht zur Debatte und das wissen die Geiselnehmer auch. Wenn es dabei geblieben wäre, zu versuchen, ein paar Gesinnungsgenossen freizupressen, das war die erste Forderung gestern, hätte man eventuell eine Einigung finden können. Es ist ja heute schon abzugfreies Geleit angeboten worden, das haben die Geiselnehmer offensichtlich abgelehnt. Wenn wir also eine Situation haben, wo auf der einen Seite Forderungen gestellt werden, die für die andere nicht akzeptabel sind, dann muss man befürchten, wenn eine Seite nicht einlenkt, dass es dann doch wahrscheinlich zu einer gewaltsamen Lösung kommen wird.

    Heuer: Kann man mit tschetschenischen Terroristen überhaupt verhandeln, realistischer Weise?

    Segbers: Das hängt davon ab, mit wem man es zu tun hat. Es gibt ja sehr unterschiedliche Gruppierungen auf der tschetschenischen Seite, die eben keine Seite ist. Es gibt einige Gruppen, ich zögere moderatere zu sagen, aber mit denen dennoch Gesprächskontakte möglich sind. Es gab ja ähnliche Aktionen schon in den neunziger Jahren, da wurde ein ganzes Krankenhaus überfallen, mit Geiselnahme, da ist dann ein freier Abzug vereinbart worden, das hat funktioniert. Es gibt andere Gruppen, mit denen das nicht mehr möglich ist. Nach dem, was wir von der Nordost-Situation 2002 wissen und nach dem bisschen, was wir jetzt auch über die Geiselnehmer erfahren haben seit gestern, bin ich eher skeptisch, das Vereinbarungen möglich sein werden.

    Heuer: Sie halten ein gewaltsames Ende mit vielen Toten für unausweichlich?

    Segbers: Ich hoffe nicht, aber ich könnte mir vorstellen, dass es früher oder später einen Versuch, einen Zugriffs- , einen Lösungsversuch geben wird von außen und dann hängt es davon ab, ob er erfolgreich sein wird oder nicht. Er muss ja nicht unbedingt als Katastrophe enden, aber es ist dann auf jeden Fall auch die Möglichkeit gegeben, dass es blutig ausgeht, ja.

    Heuer: Wir haben jetzt diese Geiselnahme in Nordossetien, wir hatten vorher eine Anschlagsserie, die Gewalt reist nicht ab, auch in Russland. Ist Putins Tschetschenien-Politik gescheitert, Herr Segbers?

    Segbers: Sein Versuch, hier eine Normalisierung oder Zivilisierung zu erreichen war bisher ohne Erfolg. Das ist keine Frage. Jedenfalls im Großen und Ganzen, obwohl es sicher einige Teile Tschetscheniens gibt, die relativ ruhig auch existieren können, aber es kommt eben immer wieder zu solchen Zuspitzungen und Zwischenfällen. Die Frage ist, ob das der Misserfolg einer konkreten Politik ist, weil dahinter vermutet man ja, es gebe andere Politikfelder, die erfolgreicher sein könnten. Das ist genau der Punkt, dass es schwierig ist. Ich sehe wenige Experten, die uns vorbuchstabieren könnten, was denn die Grundzüge einer politischen Lösung sein könnten, das ist eben das Problem, wir wissen nicht wirklich, was eine politische Lösung sein könnte. Auch wenn wir immer danach rufen, weil wir so viele verschiedene Akteure haben, die in eine solche Lösung eingebunden werden müssten. Weil wir wissen, dass es Akteure gibt, die überhaupt keine Lösung wollen, weil sie von der Gewaltförmigkeit des Konfliktes profitieren, das sind die so genannten Gewaltunternehmer, die müssten auf irgendeine Weise ja auch eingebunden oder zumindest ruhig gestellt werden. Ich sehe ehrlich gesagt kurzfristig nicht wirklich Konturen einer politischen Lösung, nicht ganz unähnlich dem, was wir auch im Nahen Osten sehen, in Pakistan, im Irak. Insofern hat es eben doch eine transnationale Dimension, es ist nicht nur auf Tschetschenien beschränkt das Problem, über das wir reden.

    Heuer: Würde es denn aber helfen, wenn Präsident Putin, wenn die russische Regierung auf mehr Demokratie zum Beispiel in Tschetschenien setzen würden? Wäre das eine Forderung, die realistisch ist, um Frieden zu schaffen?

    Segbers: Ich glaube nicht, dass sozusagen eine westliche Musterdemokratie, irgendein Westminster Modell das ist, was da fehlt. Sondern wir haben es zu tun mit einer sehr zerklüfteten Gesellschaft, immer noch, wenn auch sehr viel weniger als vor einigen Jahren, mit russischen Bevölkerungsteilen. Wir haben es zu tun mit Tschetschenen, die sich aber anders gliedern, im wesentlichen in Clans und in Sippen organisiert sind. Zumindest die wichtigsten von denen müssten in irgendeiner Form in die politische Entscheidungsfindung eingebunden sein und es müsste auch sichergestellt werden, dass es keine Außenseiter gibt, die sich nicht einbinden lassen und jede mögliche Lösung sabotieren. Das ist eben das Problem. Wir haben es im Baskenland seit Jahrzehnten nicht geschafft, in Europa, in Nordirland ist es ebenfalls eine sehr heikle Situation und die große Sorge ist, man kann es nicht ganz ausschließen, dass im Nordkaukasus eine Situation eigentlich jetzt schon gegeben ist, die ebenfalls auf Dauer gestellt werden könnte, das heißt, die uns ebenfalls noch viele Jahre begleiten wird. Das muss uns nicht, das darf uns nicht davon abhalten, über Lösungen nachzudenken. Aber wenn Sie mich als Beobachter, als Experten fragen, muss ich sagen, die Konturen einer wirklich tragfähigen Lösung sind im Augenblick nicht sichtbar.

    Heuer: Nun erleben wir oder haben wir am Sonntag das Gegenteil von Einbindung erlebt, nämlich bei den Präsidentschaftswahlen in Tschetschenien. Wie beurteilen Sie die jüngsten Äußerungen Gerhard Schröders, der Wahlverlauf in Tschetschenien sei akzeptabel gewesen, Herr Segbers?

    Segbers: Er hat nicht "ganz akzeptabel" gesagt, er hat, glaube ich, so etwas gesagt wie, es seien keine außerordentlichen Störungen oder Behinderungen erkennbar gewesen. Da gab es ja gestern schon eine ergänzende Äußerung oder vielleicht auch eine Korrektur des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Erler, der gesagt hat, dass das sicher keine Wahlen in unserem Sinne waren, wo von Gleichheit und Fairness die Rede sein könnte.

    Heuer: Aber Herr Schröder hat sich ja nicht korrigiert.

    Segbers: Nein, er hat heute noch mal gesagt, dass man Terrorismus in all seinen Formen wo er auftritt, verurteilen müsste, das sehe ich auch so. Aber diese Wahlen waren sicherlich nicht ordentliche Wahlen in unserem Sinne, das ist keine Frage. Die andere Frage ist, ob sie da überhaupt stattfinden können in einer solchen Situation? Dahinter, hinter Ihrer Frage steckt natürlich letzen Endes die Problematik, was westliche Regierungen, auch die Bundesregierung oder die Europäische Union da überhaupt tun können. Da denke ich immer, man muss sich entweder wahrscheinlich zurückhalten, wenn man nicht wirklich eine Antwort hat, oder aber man muss sagen, das ist ein solches Kernproblem europäischer Politik im Nordkaukasus, dass wir uns dann massiv engagieren müssen, sowohl materiell, wie auch mit friedenserhaltenden Truppen. Das hätte unter Umständen auch eine Wirkung, aber ich sehe im Augenblick dafür in Europa nicht den Konsens, dies wirklich zu tun.

    Heuer: Und nicht die Deutschen sind in erster Linie gefragt sondern die Europäer. Verstehe ich Sie da richtig?

    Segbers: Also, ich kann mir nicht vorstellen, dass, wie auch in allen anderen Teilen der Welt, wo die Bundeswehr tätig ist, im Augenblick ja mit 8500 Soldaten, Afghanistan, Kosovo, Ost-Timor und so weiter, dass wir das als eine deutsche Aufgabe ansehen, das sicher nicht. Wenn überhaupt, dann muss das in einem europäischen Rahmen eingebettet werden.

    Heuer: Klaus Segbers, Politologe an der FU Berlin, dort am Osteuropa Institut. Herr Segbers, danke für das Gespräch.

    Segbers: Gerne.