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Türkei
Auf der Suche nach dem besten Koranleser

Der Koran hat 6.236 Verse. Der Prophet Mohammed soll sie vor gut 1400 Jahren mündlich vom Erzengel Gabriel empfangen haben. Seitdem ist der Wortlaut des Korans für viele Muslime nicht verhandelbar. Und wer den Koran richtig vortragen will, der muss zahlreiche, sehr alte Regeln beachten. In Istanbul fand nun ein ungewöhnlicher Wettbewerb statt.

Von Luise Sammann | 26.01.2015
    Ein Mann liest im Koran
    Ein Mann liest im Koran (imago / Westend61)
    Der junge Mann hält die Augen geschlossen. Während er halb singend, halb sprechend den Koran rezitiert, wiegt er den Körper kaum merklich vor und zurück. Habib Isparli übt. So, wie eigentlich fast immer.
    "Wenn ich im Bus sitze oder sonst irgendwie Freizeit habe, dann setze ich meine Kopfhörer auf und höre mir die Versionen von großen Rezitatoren an. Ich nehme sie mir als Vorbild und ahme sie nach. Das tue ich jeden Tag, seit ich ein Kind bin."
    Habib Isparli stammt aus Istanbul. Als er sechs Jahre alt war, begann er damit, den Koran auf Arabisch zu lesen. Als er 14 war, konnte er ihn bereits auswendig. Jetzt, mit 21, fühlt er sich bereit: Zum ersten Mal nimmt er an einem Wettbewerb teil. An diesem Wochenende wird in der Bosporus-Metropole der beste Koranleser der Marmara-Region gesucht. 350 Teilnehmer aus der Türkei, aus Griechenland und aus Zypern haben sich beworben. Habib ist einer von ihnen.
    "Die Kunst der Koranrezitation heißt Tecvid"
    "Ich bin schrecklich aufgeregt. Wir werden vor Hunderten von Menschen auftreten und vor den ganz großen Gelehrten lesen."
    Einer dieser Gelehrten ist Kerim Öztürk. Seit Jahren unterrichtet der Istanbuler Imam junge Theologiestudenten oder angehende Muezzine in der Kunst der Koranrezitation – auf Türkisch: Tecvid.
    "Der Koran ist weder ein Gedicht noch ein Prosatext. Er steht über all diesen Kategorien. Und weil er ein so außergewöhnlicher Text ist, darf man ihn auch nicht gewöhnlich lesen. Es gibt bestimmte Regeln. Man muss die Betonungen kennen, die Pausen richtig setzen und man muss wissen, welche Buchstaben gelispelt, welche rund und welche dünn geformt werden."
    Obwohl es immer kulturelle Färbungen gibt, obwohl ein ägyptischer Muslim den Koran vielleicht anders liest als ein türkischer – dennoch sind diese Regeln allgemeingültig. Denn es war diese Form, so Imam Öztürk, in der der Erzengel Gabriel dem Propheten Mohammed einst mündlich den Koran überbracht habe.
    "Ohne Tecvid zu beherrschen, kann man den Koran eigentlich nicht richtig lesen. Aber wenn jemand mit einem guten Gefühl für Ton und Rhythmus den Koran liest, und dabei die Regeln des Tecvid beherrscht, dann wird das Magische an diesem Text, was so viele Menschen verzaubert, noch magischer. Es berührt die Menschen dann in ihrer Seele."
    Gläubige Muslime wie Kerim Öztürk sind sich sicher: Die Regeln des Tecvid sind so alt wie der Koran selbst. Neu ist lediglich, dass sie – wie nun in Istanbul – zum Gegenstand von Wettbewerben werden. Von den 350 Teilnehmern, die sich um den Titel des besten Koranlesers der Marmara-Region beworben haben, haben es zwölf bis ins Finale geschafft. Habib Isparli ist einer von ihnen.
    "Mehr Menschen zum Gebet locken"
    Zitternd vor Aufregung wartet der 21-Jährige auf seinen großen Auftritt. 7000 Zuschauer haben sich in der riesigen Sporthalle im asiatischen Teil Istanbuls versammelt, die für das Großereignis extra angemietet wurde. Unzählige Lautsprecher verstärken die Stimmen der Kandidaten, auf Großbildleinwänden werden ihre Bilder bis in die letzten Winkel der Halle getragen. Der Aufwand ist enorm. Schließlich geht es um mehr als um ein bisschen Unterhaltung, erklärt Salih Yilmaz von der islamischen "Bilim-ve-Insan-Stiftung", die den Wettbewerb organisiert.
    "Wir haben unzählige junge Männer in der Türkei, die eine religiöse Ausbildung haben und den Koran sogar auswendig können. Wenn wir darunter jetzt diejenigen entdecken, die Talent und eine besonders gute Stimme haben, dann machen wir sie zu Muezzinen und Imamen. Und sie werden sehen, dass ihre Moscheen extrem voll sein werden. Letztendlich ist es unser Ziel, mehr Menschen zum Gebet zu locken."
    Und dann ist es soweit. Habib Isparlis Hände zittern leicht, als er den Krawattenknoten zurechtrückt und ein weißes Gebetskettchen über das dunkle Haar stülpt. Fast wirkt es, als würde er sich lieber verstecken, als die Bühne zu betreten, hinter der er nervös auf- und abläuft.
    "Natürlich will jeder von uns der erste sein ... "
    ... bringt er gerade noch heraus. Dann ruft der Stadionsprecher seinen Namen. Habib betritt die Bühne, um sich dem Urteil der sechs vielleicht besten Koranleser der Türkei zu stellen.
    Beinahe drei Stunden dauert der Wettbewerb. Einigen Kandidaten bricht vor Aufregung die Stimme, andere sorgen für Begeisterung bei den Zuschauern, die vollständig verstummen, sobald eine Koransure aus den Lautsprechern über ihren Köpfen tönt. Habibs Auftritt verläuft fehlerfrei. Mehreren Frauen laufen die Tränen über die Wangen, als er erleichtert die Bühne verlässt.
    Den Titel als bester Koranleser der Marmara-Region erhält am Ende dennoch ein anderer. Habib landet auf dem sechsten Platz. Enttäuscht ist er deswegen nicht.
    "Es ist eine Ehre und ein Grund stolz zu sein, zum besten Koranleser gekürt zu werden. Aber am Ende ist es Schicksal, wer gewinnt."