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Türkei
Die Arbeit in den Kohlegruben bleibt gefährlich

Über 300 Arbeiter kamen bei dem schweren Grubenunglück in Soma ums Leben. Erdogan, damals noch türkischer Ministerpräsident, versprach Abhilfe, doch an den miserablen Arbeitsbedingungen in den Bergwerken hat sich nichts geändert. Das zeigt ein Besuch in einer Mine nahe der irakischen Grenze.

Von Gunnar Köhne | 09.09.2014
    Wenn die Dieselmotoren morgens um halb sieben durch das Tal von Sirnak dröhnen, ist es für die Kohlekumpel Zeit für die Frühschicht. Burhan Cavlak nimmt einen letzten Zug an seiner Zigarette, schlüpft mit seinen Beinen in einen ledernden Sitzgurt, legt die Arme an und nickt dem Kollegen hinter dem Dieselmotor zu. Eine Seilwinde setzt sich in Bewegung und lässt Cavlak durch eine enge Röhre 150 Meter abwärts in den Stollen, nach unten. Nach ein paar Minuten schon zieht das Gewinde den ersten Plastikkübel Kohle heraus. Es ist ein Himmelfahrtskommando – doch Angst dürfen sich Cavlak und seine Kumpel nicht erlauben:
    "Unsere einzige Angst ist, dass man uns Lohn und Brot nimmt. Es gibt für uns in dieser Gegend keine andere Arbeit."
    Die Gruben sind allesamt Eigenbau. Die Kumpel arbeiten zu Bedingungen wie um die Jahrhundertwende. Mit Schaufel und Spitzhacke im Schein einer Lampe. Keine Deckenstützen, keine Notausgänge, keine Gasmelder und keinen Notruf.
    Nach dem verheerenden Minenunglück von Soma hat die türkische Regierung vor Monaten stärkere Sicherheitskontrollen angekündigt. Doch hier, an der irakischen Grenze, ist davon nicht viel zu sehen.
    Mindestens acht Stunden täglich verbringen die Kumpel unter Tage. Stundenlohn: umgerechnet zwei Euro. Versichert sind sie nicht. Türkische Menschenrechtler beklagen, dass auch Kinder unter 16 Jahren in den Gruben arbeiten müssten. Dabei wird auch in der Türkei immer weniger Kohle gebraucht. In den Städten wird längst mit Erdgas geheizt. Die Kohlepreise sind im freien Fall. Doch der kurdische Südosten sei noch immer noch das Armenhaus der Türkei, sagt Bergmann Cavlak:
    "Ich wäre auch lieber Arzt geworden. Aber studieren war für ein Kind aus dieser Gegend ausgeschlossen. Wenn die Gruben geschlossen werden, dann bleibt mir nur mit meiner Familie in die Westtürkei zu ziehen und Arbeit zu suchen. Wie es so viele schon vor uns versucht haben."
    Schon über 100 Menschen starben in Sirnak
    Der Staat droht, die Minigruben zu schließen. Nicht die mangelnde Sicherheit störe die Behörden, sagen Cavlak und seine Kumpel, sondern dass sie die kleinen Gruben in Selbstverwaltung betreiben wollen. Unter den 70.000 Einwohnern der Kreisstadt Sirnak gibt es mindestens einen Bergmann pro Familie. Sirnaks Bürgermeister Serhat Kadirhan von einer kurden-nahen Partei kämpft für die Kohlekumpel.
    "Die jetzigen Verhältnisse in den Gruben erfüllen natürlich nicht die notwendigen Sicherheitsanforderungen. Das hat schon über 100 Menschenleben gekostet. Darum unterstütze ich die Forderung der Arbeiter, dass sie das Recht bekommen sollten, sich zu Kooperativen zusammenzuschließen. Erst wenn sie legalisiert sind, können sie in die Arbeitsplatzsicherheit investieren. Die Arbeiter müssten dann auch sozialversichert werden."
    Doch für viele Familien in Sirnak käme das zu spät. Etwa für die Belkiz Baysal und ihre sechs Kinder. Ihr Mann Ali starb gemeinsam mit seinem Bruder und einem dritten Kumpel Ende Mai unter Tage an einer Gasvergiftung. Die Witwe und der einzige überlebende Schwager Yakup Baysal erinnern sich an den Unglückstag:
    "Ich habe gesehen wie meine Brüder leblos übereinander lagen. Es gab keine Rettungskräfte, die sie da rausholen konnten. Ich habe andere Kumpel zusammen getrommelt. Mein Bruder lebte ja noch! Er hätte gerettet werden können! Um halb eins haben wir einen Rettungswagen gerufen. Stellen Sie sich vor: Der kam erst fünf Stunden später."
    "Die Rettungskräfte hatten zwei Gasmasken. Aber beide waren kaputt. Dann kam jede Hilfe für meinen Mann zu spät."
    In den selbstgegrabenen Kohlegruben von Sirnak geht der Betrieb weiter. Der Staat schaut weg. Bis zum nächsten Unglück.