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Türkei
Die Rache des Herrn Erdogan

Wer öffentlich Kritik am türkischen Präsidenten Erdogan übt, muss auf seine Rache oftmals nicht lange warten - zumindest in der Türkei. Doch wer ist der machthungrige Mann aus dem Istanbuler Arbeiterviertel Kasimpasa, der rücksichtslos politische Gegner aus dem Weg räumt? Eine neue Biografie versucht, Antworten zu finden.

Von Luise Sammann | 25.07.2016
    Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan
    Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (dpa/picture alliance/RIA Novosti)
    Ab sofort wird in der Türkei "niemand mehr für seine Meinung, seine Gedanken oder seinen Glauben" bestraft. Das versprach kein Geringerer als Recep Tayyip Erdogan, nachdem seine AK-Partei im Jahr 2002 zum ersten Mal die Parlamentswahlen in der Türkei gewonnen hatte.
    14 Jahre später hat derselbe Erdogan knapp 250 Menschen wegen angeblicher Präsidentenbeleidigung angeklagt, kritische Journalisten und Akademiker ins Gefängnis gebracht. Tausende Soldaten und Richter ließ er zuletzt verhaften, weil sie angeblich allesamt in den Putschversuch vom 15. Juli verwickelt sein und außerdem der Gülen-Bewegung angehören sollen. Deren Anführer, der im amerikanischen Exil lebende Prediger Fetullah Gülen, galt bis vor wenigen Jahren noch als Erdogans Freund, als Bruder im Geiste. Heute ist er sein Erzfeind:
    "Er wird dafür bezahlen", rief Erdogan noch in der Nacht des Putschversuchs an Gülens Adresse. Und weiter: "Komm doch zurück in die Türkei, wenn du dich traust."
    Kein Zufall, dass Autorin und Türkei-Journalistin Cigdem Akyol den türkischen Präsidenten in ihrer Biografie unter anderem als "Chamäleon" bezeichnet, auch, wenn das Buch längst vor dem gescheiterten Putschversuch und den folgenden Verhaftungswellen geschrieben wurde. Seine Wandlungsfähigkeit gehört schon immer zum Erfolgsrezept des Recep Tayyip Erdogan – dessen Kindheit, politische Lehrjahre und Aufstieg zum mächtigsten Mann der Türkei beschreibt die Autorin detailliert.
    Dabei erinnert sie mehrfach daran, dass auch Europa in Erdogan längst nicht immer nur den gehassten, gefürchteten oder auch belächelten Sultan vom Bosporus sah: Noch im Jahr 2004 wurde er in Berlin in der Kategorie "Brücken des Respekts" zum "Europäer des Jahres" gekürt.
    Auch die Frage, warum Erdogan bei all seinen Kehrtwendungen seine Anhänger nicht verliert, sondern sogar immer beliebter wird, beantwortet das Buch überzeugend. Ängste und Verschwörungstheorien bestimmen den politischen Alltag in der Türkei, wie die aktuelle Jagd auf vermeintliche Gülen-Anhänger zeigt.
    Die Angst vor Minderheiten, vor Gezi-Demonstranten oder einfach nur undefinierten dunklen Mächten gehört zum politischen Programm fast jeden türkischen Politikers. Erdogans AKP ist in dieser scheinbar feindlichen Umgebung längst mehr als eine Partei, sie ist eine Bewegung, der vor allem viele einfache Türken folgen. Von Anfang an verstand Erdogan es, diese sogenannten "schwarzen Türken", die in der Türkei jahrzehntelang das Nachsehen hatten, hinter sich zu scharen.
    "Wer ihm zuhört, empfindet es plötzlich als Auszeichnung, ein "schwarzer Türke" zu sein. Erdogan präsentiert eine neue muslimische Intelligenz, die postmodern denkt, sich von den Eliten emanzipiert, vom unteren Ende der sozialen Skala kommt und den Islam im öffentlichen Leben sichtbar werden lässt. Damit trifft er einen wunden Punkt. Die bisherigen Politiker verkörperten Abgehobenheit und stehen für ein politisches System, das die Menschen hungern lässt. Erdogan dagegen gefällt sich in seiner liebsten Rolle: der Einzige, der Klartext redet."
    Erdogans pathetische Reden
    Tatsächlich ziehen Erdogans Reden, die in Deutschland pathetisch oder gar peinlich wirken mögen, bei jedem seiner Auftritte Millionen in ihren Bann. Wenn er auf der Bühne poltert und schimpft, verkörpert er für viele Türken einen echten, einen starken Mann. Auch und gerade Frauen gehören zu seinen treuesten Fans. Dass Autorin Cigdem Akyol Türkisch spricht, versetzt sie in die Lage, ihren deutschen Lesern einen Eindruck von Erdogans Rhetoriktalent zu vermitteln:
    "Diese Kraftnatur würzt ihre Sätze mit Spott und deftigen Passagen. Als Redner ist er ein Ereignis. Und die Menschen hören ihm gebannt zu, wenn er seine Sätze mit einem "Ey" beginnt. Auch, wenn er mit nüchternen Zahlen über die Wirtschaft und die Innenpolitik referiert, bringt er bei den Zuhörern eine Saite zum Schwingen, die sie so Jahrzehnte vorher nicht kannten: Stolz. Es ist die Art seines schneidigen Vortrags, mit dröhnender, tiefer, mal langsamer, dann aber aufbrausender Stimme."
    Wer also ist dieser Erdogan: ein Schauspieler, ein Chamäleon oder doch ein missverstandener Demokrat? Ein Islamist jedenfalls ist er nicht, wie die Autorin gleich zu Anfang betont. Wohl aber beschreibt sie ihn als machtgierigen, selbstherrlichen und zugleich ängstlichen Menschen. Wirklich nahe kommt sie der Person Erdogan in ihrer Biografie allerdings selten. Es gehört zu den Schwächen dieses Buchs, dass die Autorin den türkischen Präsidenten nicht persönlich getroffen, geschweige denn mit ihm gesprochen hat. "Eine Inspektion seines Inneren ist kaum möglich", heißt es im Vorwort erklärend.
    "AKP-Politiker reden selten mit der westlichen Presse. Es wird geschickt abgewiegelt, vertröstet, hingehalten. Wer eine Biografie über Erdogan schreiben will, der muss ihm also hinterherreisen, die etlichen Veranstaltungen besuchen, bei denen er auftritt. Der muss die Stationen seines Lebens anschauen, sich herantasten, umkreisen, der muss seine Persönlichkeit studieren."
    Kein Interview direkt mit Erdogan
    Und so dauert es ganze 163 Seiten, bis mit Rainer Hermann, dem ehemaligen Türkei-Korrespondenten der "FAZ", zum ersten Mal jemand zu Wort kommt, der Erdogan persönlich interviewt hat. Ansonsten gleichen weite Strecken des Textes eher einem – durchaus spannenden – Abriss der jüngeren und jüngsten türkischen Geschichte. Dabei nennt sich das Buch selbstbewusst "Erdogan – die Biografie" - das erinnert ein bisschen an Etikettenschwindel.
    Wer sich aber allgemein für die Türkei, dieses so schillernde, Europa gleichzeitig so nahe und doch so ferne Land interessiert, der kann hier viel mitnehmen. Vor allem, wie düster die Lage am Bosporus nach 14 Jahren AKP-Regierung heute ist.
    "Wer das wuchtige Temperament dieses Mannes erlebt hat, wie aggressiv er auf Kritik reagiert, wie gnadenlos und unverhältnismäßig er Rache übt, der möchte lieber nicht daran denken, was geschieht, wenn er sein Präsidialsystem mit umfassenden Vollmachten durchsetzt – und es gibt niemanden, der ihn stoppen könnte."
    Cigdem Akyol: "Erdogan"
    384 Seiten, Verlag Herder, ISBN: 978-3-451-32886-2