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Türkei: Ein Jahr nach dem Putschversuch
Willkür und ein Klima der Angst

Seit dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 hat sich das Leben für viele Türken verändert. Auch jene, die nicht von der Entlassungs- und Verhaftungswelle betroffen sind, leiden unter den Folgen des Umsturzversuchs. Die Türkei ist mehr denn je eine gespaltene Gesellschaft.

Von Christian Buttkereit | 13.07.2017
    Eine 1.100 Meter lange türkische Flagge wird während des "Marschs für Gerechtigkeit" entrollt. Der Führer der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Kemal Kilicdaroglu, wird dabei begleitet von mehreren Tausend Demonstranten auf dem Weg von Ankara nach Istanbul.
    Widerstand im Volk: Der "Marsch für Gerechtigkeit". Angeführt vom Führer der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Kemal Kilicdaroglu. Er wurde von mehreren Tausend Demonstranten auf dem Weg von Ankara nach Istanbul begleitet. (imago /Depo Photos)
    Taksis stehen morgens und abends im Stau, die Menschen gehen zur Arbeit oder einkaufen, fahren in den Urlaub. Auf den ersten Blick unterscheidet sich das Leben ein Jahr nach dem gescheiterten Putsch nicht von der Zeit davor. Einen anderen Eindruck erhält man jedoch, wenn man mit den Menschen redet.
    "Die Gesellschaft ist gespalten. Auf der einen Seite jene, die Erdoğan huldigen. Auf der anderen Seite jene, die diese Huldiger und ihn hassen. Zwei Lager, die sich gegenseitig nicht ausstehen können. Ja, beide Lager leben nebeneinander und in der selben Gesellschaft, könnten sich aber jeden Augenblick an die Gurgel gehen."
    Spannungen zwischen islamisch-konservativem und kemalistischem Lager
    Sagt dieser Passant in Istanbul. Zwar gibt es in der Türkei schon immer die beiden Lager islamisch-konservativ und kemalistisch, also in Atatürks Geist nach Westen orientiert. Doch die Toleranz dem jeweils anderen gegenüber hat abgenommen. Und zwar ganz egal, wie die Menschen zum Putschversuch stehen, sagt der Istanbuler Rechtswissenschaftler Ibrahim Kaboglu:
    "99 Prozent der türkischen Bevölkerung haben sich dem Putschversuch widersetzt. Wir auch - mit aller Kraft. Aber, wie man jetzt sieht, leiden auch jene, die sich dem Putschversuch vom 15. Juli widersetzt haben, unter Repressalien."
    "Viele halten sich mit persönlichen Äußerungen zurück"
    So wie Mehmet Cemil Ozansü. Der 35-Jährige Dozent hegt keinerlei Sympathie für die Putschisten. Aber er hatte sich vor zehn Jahren in der Studentenbewegung engagiert:
    "Ich wurde durch ein Dekret vom 29. Oktober 2016 aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Mein Reisepass wurde beschlagnehmt. Es gibt keinerlei strafrechtliche oder verwaltungsrechtlcihe Verfahren gegen mich."
    Gründe wurden ihm nie genannt. Genau diese Willkür, gedeckt durch den immer noch andauernden Ausnahmezustand, erzeugt ein Klima der Angst. Menschen reden im Café oder im Taxi nicht mehr offen über Politik, viele halten sich mit persönlichen Äußerungen im Internet zurück.
    "Autozensur" an den Universitäten
    Auch dort, wo das freien Denken gefördert werden sollte, in den Universitäten, überlegen sich Studenten wie der 23jährige Eliyas, zweimal, ob sie ihre Meinung sagen:
    "Wir können uns nicht mehr so frei verhalten, wie früher. Wenn wir im Unterricht mal zu kritisch werden, zu scharf argumentieren, fürchten wir, vielleicht unser Studium nicht mehr abschliessen zu können. Oder bei Prüfungen durchfallen. Ja, leider ist da eine gewisse Autozensur entstanden."
    Die Angst kommt nicht von ungefähr. Nachdem rund 150.000 Mitarbeiter aus dem Öffentlichen Dienst entlassen wurden, wurden deren Positionen vor allem mit Erdogans Getreuen besetzt. Keine gute Aussichten für die Zukunft meint Familienvater Dogan Ergün:
    "Wenn ich schon nicht Angst um meiner selbst habe, so doch um die Zukunft meiner Kinder. Den langfristig könnten die Probleme in der Türkei noch zumehren, es könnte noch schlimmer werden. Die Angst davor ist gross und real. Entweder man überlegt, auszuwandern, oder man sagt sich: Ich werde dagegen ankaempfen und siegen!
    Hoffnung nach dem Gerechtigkeitsmarsch der Opposition
    Manche verstecken sich vor der Angst, weigern sich Nachrichten zu sehen oder Zeitung zu lesen. Während viele junge Leute versuchen, die Türkei zu verlassen, haben die Älteren eines gelernt: die Hoffnung nicht aufzugeben. So wie diese Mutter von erwachsenen Kindern:
    "Wir haben die Hoffnung nie verloren, aber sie versuchen unsere Hoffnung zu brechen. Wir aber möchten unseren Kindern zeigen, dass wir etwas unternehmen, dass wir aufrecht gehen und uns gegen Erdogan wehren. Denn unsere Kinder sehen schwarz für die Türkei. Wir hingegen wollen ihnen zeigen, dass es doch noch Hoffnung gibt."
    Diese Hoffnung erhielt etwas Nahrung durch den so geannnten Gerechtigkeitsmarsch von Oppositionsführer Kilicdaroglu. Mehr als eine Million Teilnehmer bei der Abschlusskundgebung haben gezeigt: Längst nicht alle Türken stehen Erdogan.