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Türkei - eine Macht in der Region

Beim Dauerthema EU-Beitritt darf sich die Türkei in jüngster Zeit über aufmunternde Worte freuen, etwa von Bundesaußenminister Guido Westerwelle oder vom britischen Premier David Cameron. Denn an der wirtschaftlich erstarkten Türkei kommt in der Region niemand mehr vorbei.

Von Gunnar Köhne | 30.07.2010
    Soviel Zuspruch aus der Europäischen Union wie in diesen Tagen haben die Türken selten erlebt. Anfang der Woche kam der britische Premierminister Cameron nach Ankara und betonte wieder und wieder, wie wichtig seine Regierung eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU fände. Kurz darauf landete der deutsche Außenminister Westerwelle am Bosporus und erklärte:
    "Wie haben ein sehr großes, ein strategisches Interesse daran - nicht nur als Deutschland, sondern auch als Europäische Union - dass die Türkei sich in Richtung Europa orientiert. Oder um es in Ihrer Sprache zu versuchen: Türkiyenin yönü Avrupadir. Ich hoffe, damit gibt es ab sofort keinerlei Missinterpretationen mehr."
    Die Richtung der Türkei ist Europa, hatte der deutsche Minister auf Türkisch gesagt. Doch diese Aussage war nicht so eindeutig, wie es sich manche Beobachter erhofft hatten. Soll die Türkei wie geplant eine Vollmitgliedschaft anstreben, soll sie also Teil Europas werden oder reicht es auch an der EU-Seitenauslinie zu stehen in Form einer privilegierten Partnerschaft, wie es Westerwelles Koalitionspartner, die CDU, will? Der Istanbuler Politikwissenschaftler Cengiz Aktar berät die türkische Regierung in EU-Fragen. Von dem Auftritt Westerwelles hatte er sich mehr erhofft:
    "Er wiederholte, dass die Beitrittsverhandlungen ein Prozess mit offenem Ausgang sei. Aber dieses Insistieren auf einen offenen Ausgang wird zunehmend zu einer Belastung. Unsere Freunde in Europa sollten uns endlich ein konkretes Beitrittsdatum nennen."
    Dieses Datum könne auch nach dem Jahr 2015 liegen, betont Aktar, doch es würde beide Seiten in ihrer Zusammenarbeit unter Druck setzen. Dass die Türkei noch längst nicht beitrittsreif ist, wie der deutsche Außenminister bei seinem Besuch betont hat, weiß man in Ankara sehr wohl. Zwar wird im September in einem Referendum über eine neue, liberalere Verfassung abgestimmt, die den Einfluss des Militärs zurückdrängen und individuelle Freiheitsrechte stärken soll. Doch die von der Regierung versprochene neue Kurdenpolitik lässt genauso weiter auf sich warten wie Fortschritte in den Wiedervereinigungsverhandlungen auf Zypern. Der Reformelan auf türkischer Seite hat deutlich nachgelassen. Das Interesse der Europäer an der Türkei ist dagegen neu geweckt worden durch die Sorge, das Land könne sich vom Westen ab- und stärker als bisher den östlichen Nachbarn zuwenden. Mit Syrien, dem Libanon, Jordanien und sogar Russland vereinbarte Ankara Visafreiheit, im Kaukasus investieren die Türken in Eisenbahnen und Pipelines. Die Türkei ist wirtschaftlich und politisch zu einer Macht in der Region aufgestiegen - Cengiz Aktar meint, die Europäer sollten das als Chance begreifen:
    "In Europa, sogar in Frankreich, gibt es eine wachsende Angst, die Türkei zu verlieren - jedenfalls steht man den Entwicklungen ratlos gegenüber. Und nur wenige wagen deutlich auszusprechen, dass es nur einen Weg gibt, die Türkei fest an Europa zu binden - und das ist die Vollmitgliedschaft in der EU."
    Der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu hat in seinen Gesprächen mit seinem Amtskollegen Westerwelle indirekt eine Geste des guten Willens seitens der EU gefordert, mit der man die Europa-Begeisterung unter den Türken wieder anfachen könne. Insbesondere wünscht sich Ankara Erleichterung bei der Erteilung von Schengen-Visa. Unter der belgischen EU-Ratspräsidentschaft sollen darüber mit der türkischen Seite Gespräche geführt werden.