Donnerstag, 25. April 2024

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Türkei
"Erdogan hat seinen Zenit überschritten"

Der Türkei stehen sehr unsichere, instabile Zeiten bevor, sagt Elmar Brok (CDU), Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten im Europaparlament, im DLF-Interview. Ministerpräsident Erdogan werde trotz der Korruption in der Regierung und der neuen Demonstrationen mit allen Mitteln versuchen, an der Macht zu bleiben.

Elmar Brok im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 28.12.2013
    Jürgen Zurheide: In der Türkei stehen die Zeichen nach wie vor auf heftiger Auseinandersetzung. In der vergangenen Nacht hat es wieder Demonstrationen gegeben und die Reaktion der Staatsmacht ist eindeutig: Man schickt Polizei, man schickt Wasserwerfer, Tränengas - das volle Programm. Was passiert da gerade, vor allen Dingen mit Blick auf auch den europäischen Beitrittsprozess? Dort gibt es zunehmende Besorgnis in Brüssel. Über all das wollen wir reden, und ich begrüße am Telefon Elmar Brok, den Vorsitzenden des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten im Europaparlament. Guten Morgen, Herr Brok!
    Elmar Brok: Guten Morgen, Herr Zurheide.
    Zurheide: Herr Brok, wie steht es denn - fangen wir damit an - um die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei? Welche Eindrücke haben Sie und gewinnen Sie auch in diesen Tagen?
    Brok: Man sieht, dass die Regierung dramatischen Einfluss auf die Unabhängigkeit der Justiz nimmt und man hat auch den Eindruck, dass aber auch andere Kräfte offensichtlich ihre Leute im Justizdienst platziert haben, sodass man, glaube ich, in der Tat nur formal von einer Unabhängigkeitsrechtssprechung der Türkei reden kann.
    Zurheide: Sie haben gerade von anderen Leuten gesprochen, Sie sprechen da wahrscheinlich gerade die Gülen-Bewegung an, über die wir in diesen Tagen ja wieder viel lernen und hören. Wie schätzen Sie die ein?
    Brok: Nun, das ist ein alter Bündnispartner von Erdogan, und jetzt geht es im Bereich der islamischen Kräfte um die Machtverteilung und nachdem ja die klassischen kemalistischen Kräfte ausgeschaltet worden sind - so scheint es jedenfalls -, und deswegen ist das auch ein interner Machtkampf, in welcher Weise islamische Politik in der Türkei betrieben werden soll.
    Zurheide: Das heißt, wir haben einen vollen Machtkampf innerhalb der konservativen Fraktion?
    Brok: Das sind ja zwei Bewegungen, die miteinander kooperiert haben, und man muss sehen, dass die eine sich im Bereich der Waren betätigt haben - das ist die AKP von Herrn Erdogan -, und die Gülen-Bewegung, die sich auf Schulen, auf Bildung konzentriert hat, dort Einfluss ausgeübt hat, und die offensichtlich auch weite Teile des Staatsapparates mit ihren Leuten besetzt hat.
    Zurheide: Und auf der anderen Seite haben wir diese korruptiven Elemente, die Vorwürfe, die da im Raum stehen, aber die möglicherweise nicht nur im Raum stehen, denn wenn drei Minister wegen Korruption zurücktreten, das halbe Kabinett ausgetauscht wird, dann rückt das ja alles sehr nah auch an den Regierungschef ran. Ist denn vorstellbar, dass er da nichts von gewusst hat? Wohl kaum, oder?
    Brok: Wir müssen sehen, dass die Fragen der Korruption seit einigen Monaten in der Türkei schon intensivst diskutiert wurden. Als ich vor vier Wochen das letzte Mal dort war, gab es schon eine Vielzahl von Gerüchten in dieser Richtung, diese sicherlich auch als politisches Instrument eingesetzt, um auf diese Art und Weise doch Machtfragen zu entscheiden. Aber ich bin sicher, dass es die Korruption gibt unter Erdogan, der das Land ja fast als Privateigentum geführt hat, und so sind ja auch seine Ausdrücke heute zu verstehen, kann ich mir gut vorstellen, dass hinter diesem Mantel Korruption sich entwickelt hat.
    "Es wird einen dramatischen Glaubwürdigkeitsverlust weiterhin geben"
    Zurheide: Was heißt das jetzt für die Zukunftsfähigkeit dieser Regierung, wie ist dort Ihre Prognose?
    Brok: Es wird einen dramatischen Glaubwürdigkeitsverlust weiterhin geben, so wie das ja auch schon aufgrund der Gezi-Demonstrationen im Sommer stattgefunden hat. Große Teile der Bevölkerung, die einen säkularen Staat haben wollen, die einen sauberen Staat haben wollen, wenden sich ab, sodass, ich glaube, der Erdogan seinen Zenit überschritten hat. Aber er versucht alle Mittel einzusetzen, alles niederzumachen, so wie er das mit der Ergenekon-Untersuchung auch gemacht hat, als es tatsächlich oder angeblich einen Anschlag auf seine Regierung hat geben sollen, einen politischen Anschlag. Ich glaube, dass die Türkei in sehr unsichere, unstabile Zeiten hineingeht, und da das Vertrauen in die Erdogan-Regierung jetzt sinkt, ist das auch damit verbunden, dass wirtschaftliche Erfolge nachlassen, ausländische Investitionen werden abgezogen, und das wiederum hat dann zur Konsequenz, dass natürlich das, womit Erdogan groß geworden ist, Unterstützung bekommen hat, nämlich großen wirtschaftlichen Erfolg, nachlassen wird, und das wird ihn weiter schwächen.
    Zurheide: Jetzt kommen wir zur europäischen Perspektive. Sie haben ja innerhalb der CDU immer zu jenen gehört, die dort aufgeschlossener waren als Parteifreunde oder auch als Bundeskanzlerin Angela Merkel. Bleiben Sie das angesichts dieser Analyse, die wir jetzt gerade gemeinsam gemacht haben?
    Brok: Ich bleibe es insofern, da ich ja immer gesagt habe: Nicht der Beitritt Türkei ist das Ziel, sondern eine enge Bindung im Rahmen einer europäischen Wirtschaftsrunde, im Rahmen etwa einer Norwegen-Lösung sollte man da vorankommen, um eine enge Zusammenarbeit zu haben. Man muss nur auf die Landkarte gucken, dann sieht man, wie wichtig es ist, dass die Türkei im westlichen Lager bleibt, dass sie nicht in einen islamistischen Prozess abrutscht. Ich glaube, die Türkei ist heute von uns strategisch von größerer Bedeutung als noch zur Zeit des Kalten Krieges. Ich möchte nur auf die Frage hinweisen, die mit Energie und Durchleitung von Energie durch die Türkei zu tun haben. Ich glaube, aus diesem Grunde sollten wir jetzt versuchen, die Beziehung zur Türkei so zu entwickeln als Europäische Union, dass diese Verhandlung in eine solche Norwegen-Lösung einmünden, weil die Türkei die Bedingungen für eine Vollmitgliedschaft, glaube ich, aus innenpolitischen Gründen nicht zustande bringen wird.
    Zurheide: Auf der anderen Seite, angesichts der aktuellen Lage: Glauben Sie, dass die Europäische Union dort Macht hat, etwas zu verändern? Ich habe gerade den EU-Kommissar schon mal angesprochen, Stefan Füle, er hat gesagt, na ja, man sieht das alles mit zunehmender Besorgnis. Ja, was kann man und was müsste die Europäische Union tun? Oder muss man gar nichts tun?
    Brok: Doch, man sollte realistische Angebote machen und nicht von einer Mitgliedschaft reden, an die man in der Türkei selbst nicht glaubt. Man sollte es also in diese Richtung münden lassen, wie ich es zum Ausdruck gebracht habe. Aber man sollte die Ziele bestehen lassen - denn viele in der Türkei setzen auf die Europäische Union -, dass über solche Verhandlungen, auch meinetwegen zu einer Norwegen-Lösung, die ja dann 70 Prozent des europäischen Gemeinschaftsrechts auch in der Türkei zur Anwendung bringen würde, dass man dort Reformprozesse voran bringt. Ich glaube, dass gerade die Unabhängigkeit der Justiz eine wichtige Frage ist. Deswegen ist es sicherlich vielleicht interessant, jetzt nicht über Regionalpolitik zu verhandeln, sondern die Fragen von Grundrechten, von Justiz mit der Türkei zu verhandeln, um in diesen Bereichen die entsprechenden Fortschritte zu erreichen.
    Zurheide: Jetzt haben Sie gerade schon die regionale Bedeutung der Türkei angesprochen. Was bedeutet denn eigentlich die politische Destabilisierung der aktuellen Regierung für die Region?
    Brok: Ich meine, eine Regierung kann schwächer werden, dann wird sie abgewählt. Er ist seit zehn Jahren im Amt und dann müssen nur irgendwann Wahlen stattfinden, dann gibt es vielleicht eine neue Regierung. Aber dabei sollten wir Wert darauf legen, dass immer Entwicklungen unterstützt werden, die westlich schauen, die nicht islamistisch sind. Und auf dieser Grundlage kann man, glaube ich, dann doch sehen, dass man innerhalb der Türkei immer noch große Unterstützung hat, die die Türkei als einen säkularen Staat ansehen, die eher westlichen Maßstäben nachfolgen möchte.
    Zurheide: Wo sehen Sie solche politischen Kräfte? Denn man hat den Eindruck, dass eher die Konservativen die politische Landschaft bestimmen und jetzt eben sich einen Machtkampf leisten.
    Brok: Sie leisten sich einen Machtkampf, aber es sind auch die alten kemalistischen Kräfte, etwa die Republikanische Partei, die ja etwa mit der SPD verbunden ist, das ist die alte Atatürk-Partei, die sich jetzt wieder weiter ... stärker hervorkommen. Man muss sehen, inwiefern sie in Wahlen wieder reüssieren könnte. Das ist eine Partei, die dann doch in ihrer geläuterten Form die Türkei voranbringen könnte.
    Zurheide: Schwierige Lage in der Türkei, und dass es nicht ganz einfach ist, das aufzulösen, haben wir gerade besprochen mit Elmar Brok aus dem Europäischen Parlament. Herr Brok, ich bedanke mich bei Ihnen für das Gespräch! Danke schön!
    Brok: Ich danke Ihnen sehr!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.