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Türkei
Erdogan treibt Präsidialsystem voran

Die AKP und ihr Präsident Recep Tayyip Erdogan wollen ihrer Initiative zur Verfassungsänderung noch einmal Antrieb geben: Eine Änderung soll dem Präsidenten mehr Macht geben. Die Opposition sieht das anders: Erdogan reiße unverholen alle Macht an sich, obwohl sich der Präsident an die Verfassung halten müsse und nicht umgekehrt.

Von Luise Sammann | 27.01.2016
    Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hält eine Rede, hinter ihm sind zwei türkische Flaggen zu sehen.
    Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan will eine Initiative zur Verfassungsänderung durchbringen. (picture alliance / dpa / Turkish President Press Office)
    Ertrunkene syrische Flüchtlinge, Krieg in Südostanatolien, Schnee in Istanbul. Die aktuellen Nachrichten in der Türkei sind so vielfältig, dass sie kaum in die einstündige News-Sendung des Senders NTV passen. Ein Thema aber hält sich konstant in den Talksendungen und Teehäusern des Landes:
    Die Türkei muss das Präsidialsystem einführen, verkündet nicht nur Yigit Bulut, Berater von Präsident Erdogan, bei jedem öffentlichen Auftritt.
    "Wenn wir ein Präsidialsystem hätten, wäre auch die Gefahr von Putschen geringer. Es sollte überhaupt keine Koalitionen mehr geben."
    Findet auch der AKP-treue Journalist Cemil Barlas.
    AKP-Treue nennen Regierungssystem "ausgedient"
    Und auch, wenn längst nicht alle Türken von einem noch mächtigeren Präsident Erdogan träumen, sind es doch nicht nur dessen Anhänger, die finden: Das aktuelle Regierungssystem hat ausgedient.
    "Unsere Umfragen zeigen, dass 85 Prozent der türkischen Gesellschaft eine Verfassungsänderung befürworten."
    Erklärt der landesweit bekannte Meinungsforscher Adil Gür. Und auch er, einer der wenigen Menschen in der Türkei, der sich weder dem Lager der Erdogan-Freunde noch der Erdogan-Feinde zuordnen lassen, ist überzeugt, dass Reformen nötig sind.
    "Denn aktuell haben wir einen gewählten Präsidenten und einen Premierminister, die sich – obwohl sie der gleichen politischen Partei angehören – immer wieder ins Gehege kommen."
    Opposition: Präsident soll sich an die Verfassung halten
    Kurz: Dass die Türkei eine Art Doppelspitze hat, lähmt das Land. Doch dass es soweit kommen konnte, ist kein Zufall. 'Ich werde kein gewöhnlicher Präsident sein' hatte Recep Tayyip Erdogan direkt nach seiner Wahl im August 2015 verkündet. Schon kurz darauf begann er, sich in die Tagespolitik einzumischen, berief die Minister ein, machte aktiv Wahlkampf für die AKP, trat zuletzt beim G20 Gipfel in Antalya ganz unverhohlen als Gastgeber auf, während für Premier Davutoglu nur noch eine Nebenrolle blieb. Alles Schritte, die ihm schließlich Aussagen wie diese erlaubten:
    "Akzeptieren Sie es oder nicht – das politische System hat sich faktisch bereits geändert, jetzt muss die Verfassung dem angepasst werden."
    Keine Frage, dass man das auch genau andersherum sehen kann: Nicht die Verfassung muss an den Präsidenten angepasst werden, sondern der Präsident soll sich an die Verfassung halten und in die ihm zugedachte repräsentative Rolle zurückkehren. So sieht es die Opposition, die ein Präsidialsystem à la Erdogan geschlossen ablehnt.
    Doch der Präsident setzt ohnehin nicht auf die Parlamentarier, sondern auf das Volk, das durch die aktuelle Kampagne offensichtlich auf ein zukünftiges Referendum vorbereitet werden soll. Dass es bei den ständigen Plädoyers für das Präsidialsystem nur selten wirklich um Inhalte geht, wundert Meinungsforscher Adil Gür nicht:
    "Wenn Sie die Türken fragen, was eine Verfassung oder auch ein Präsidialsystem eigentlich ist, kann über die Hälfte von ihnen ohnehin nichts darauf antworten. Den Leuten jetzt etwas über Gewaltenteilung zu erzählen, würde also sowieso nichts helfen."
    Vielleicht ist das der Grund, warum der Präsident lieber darauf hinweist, dass ein starkes Führersystem den Türken nun mal in den Genen liege, um sie von seinen Plänen zu überzeugen. Auch diente ihm zuletzt nicht mehr nur das präsidial geführte Amerika als Vorbild, sondern auch die Effizienz von Hitlers Nazi-Deutschland. Ein Vergleich, der bisher seinen Feinden vorbehalten war.