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Türkei
HDP bezeichnet Festnahmen als "politische Lynchjustiz"

In der Türkei gehen die Behörden weiter gegen Oppositionelle vor. In der Nacht wurden zwölf führende Politiker der HDP festgenommen, darunter die beiden Vorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag. Die Partei spricht von "politischer Lynchjustiz", Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier bestellte den Geschäftsträger der türkischen Botschaft ein.

04.11.2016
    Festnahmen bei einer Demonstration in Ankara im Zusammenhang mit den Festnahmen von Politikern der HDP.
    Festnahmen bei einer Demonstration in Ankara im Zusammenhang mit den Festnahmen von Politikern der HDP. (dpa/picture-alliance/Tumay Berkin)
    Es handele sich um "politische Lynchjustiz", sagte Sprecher Ayhan Bilgen am Freitag in einer über den Dienst Periscope live übertragenen Stellungnahme in Ankara. Bilgen rief die HDP-Anhänger zudem zu Solidarität und Protesten auf. "Die Regierung versucht über die Justiz zu erreichen, was sie in den beiden letzten Wahlen nicht geschafft hat." Eine Pressekonferenz in der HDP-Parteizentrale in Ankara verhinderte die Polizei. Diese lasse Journalisten auch mit dem Presseausweis der Regierung nicht durch die Absperrungen an der Zentrale, berichteten mehrere Reporter vor Ort.
    Steinmeier: "Festnahmen eine weitere Verschärfung der Lage"
    Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) bestellte den Geschäftsträger aus der türkischen Botschaft ein. Das Gespräch solle noch am Freitag stattfinden, hieß es aus dem Auswärtigen Amt. "Die nächtlichen Festnahmen von Politikern und Abgeordneten der kurdischen Partei HDP sind aus Sicht des Außenministers eine weitere drastische Verschärfung der Lage", hieß es zur Begründung.
    Auch Bundespräsident Joachim Gauck äußerte sich besorgt. "Was ich derzeit in der Türkei beobachte, bestürzt mich", sagte er dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel". Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini äußerte Bedenken wegen der Festnahme der Politiker. Sie erklärte, dass sie ein EU-Botschafter-Treffen in Ankara einberufen habe.
    Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter sagte dem Deutschlandfunk, die Bundesregierung müsse sich nun deutlich äußern und sich aus der Erpressbarkeit durch die Türkei wegen des Flüchtlingsabkommens befreien. Das EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen führe dazu, "dass die Bundesregierung nicht in der Lage ist, entsprechend klar zu protestieren und eine klare Position zu beziehen, wenn es um Pressefreiheit geht, wenn es um Menschenrechte geht, und wenn es um die Rechte der oppositionellen Abgeordneten geht". Feleknas Uca, Abgeordnete der HDP im türkischen Parlament, sagte im Deutschlandfunk, die Regierung wolle ihre Partei vollständig auslöschen. Auch sie könne in den nächsten Stunden festgenommen werden.
    Die Kurdische Gemeinde in Deutschland forderte deutliche Schritte von der EU und der NATO. Der Vorsitzende Ali Ertan Toprak forderte einen Stopp von Waffenlieferungen, die Aufkündigung des Flüchtlingspakts, die sofortige Einstellung von EU-Finanzhilfen und die Aussetzung der EU-Beitrittsgespräche. "Wer jetzt noch in der Türkei einen Partner sieht, hat die Dimension der Zerstörung der Zivilgesellschaft in der Türkei nicht verstanden", sagte Toprak weiter.
    Justizminister rechtfertigt Festnahmen
    Das Innenministerium in Ankara bestätigte den Einsatz in mehreren türkischen Provinzen und sprach von einer Anti-Terror-Operation. Ermöglicht wurde das, weil schon im Mai die Immunität von 55 der 59 HDP-Abgeordneten aufgehoben worden war. Seitdem wurden gegen HDP-Abgeordnete Hunderte Klagen erhoben, etwa wegen mutmaßlicher "Verbreitung terroristischer Propaganda" oder "Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Organisation."
    Justizminister Bekir Bozdag sagte, die Festnahmen seien rechtskonform gewesen. Weder Kanzlerin Angela Merkel noch EU-Kommissare hätten das Recht, der Türkei "Lehren" zu erteilen. "Sie müssen sehen und verstehen, dass die türkische Justiz genauso neutral und unabhängig ist wie die deutsche." Bozdag griff zugleich Deutschland an. "Rechtsstaat und Freiheiten gibt es nur für Deutsche", sagte der Minister. "Wenn Sie ein Türke in Deutschland sind, haben Sie überhaupt keine Rechte." Erdogan hatte Deutschland am Donnerstag vorgeworfen, Terroristen Unterschlupf zu bieten, statt "rassistische Übergriffe gegen Türken" zu verhindern. "Man wird sich zeitlebens an Euch erinnern, weil Ihr den Terror unterstützt habt", sagte Erdogan.
    (nch/tgs)