Donnerstag, 28. März 2024

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Türkei nach dem Putschversuch
"Die Lage hat sich noch verschärft"

Nach dem Putschversuch in der Türkei wurden mehr als 60.000 Menschen verhaftet. In den Gefängnissen sei es zu Folter und Misshandlungen gekommen, sagte Wolfgang Büttner von Human Rights Watch. Jetzt müsse sich der Europarat einschalten und sich um diese Leute kümmern.

Wolfgang Büttner im Gespräch mit Doris Simon | 08.08.2016
    Das Logo der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch
    Was man in der Türkei sehe, sei praktisch eine Fortsetzung von einer immer stärkeren Einschränkung der Menschenrechte, sagte Büttner im DLF. (AFP PHOTO/JOHN MACDOUGALL)
    Doris Simon: Am 15. Juli wurden bei dem gescheiterten Putsch in der Türkei mindestens 273 Menschen getötet. Als Reaktion verhängte der türkische Staatschef den Ausnahmezustand, und mehr als 60.000 Menschen sind seither verhaftet oder aus ihren Arbeitsplätzen entlassen worden, darunter auch viele Richter, Staatsanwälte, Anwälte und Journalisten. Ich bin jetzt verbunden mit Wolfgang Büttner von Human Rights Watch. Guten Abend!
    Wolfgang Büttner: Guten Abend, Frau Simon!
    Simon: Herr Büttner, der türkische Wirtschaftsminister Nihat Zeybekci hat den Verhafteten so brutale Strafen angedroht, dass sie, Zitat: "am Ende um ihren Tod betteln würden". Jenseits der Rhetorik – wie geht es den Verhafteten in der Türkei?
    Büttner: Die Situation in der Türkei, was die Menschenrechte betrifft, ist äußerst problematisch. Das ist, wie Sie eben auch gesagt haben, durch die willkürlichen Verhaftungen, die teilweise gegen Richter, Staatsanwälte und auch gegen Journalisten durchgeführt worden sind. Wir sind auch sehr besorgt darüber, was unsere Kollegen von Amnesty International dokumentiert haben, was Sie auch ansprechen, dass es nämlich offensichtlich auch zu Folter und Misshandlungen in den Gefängnissen und in den Polizeistationen gekommen ist. Das sind also Sachen, die äußerst problematisch sind und die natürlich nicht passieren dürfen.
    Nur wenige Anwälte trauen sich, Verhaftete zu verteidigen
    Simon: Wer kümmert sich denn um die Verhafteten, ihre Behandlung? Gibt es denn in dieser Situation Anwälte, die sich das trauen?
    Büttner: Es gibt immer noch mutige Anwälte, die sich trauen, für die Verhafteten einzustehen, allerdings gibt es da auch einige, die zurücktreten von ihrem Mandat, weil sie Angst haben, dann verfolgt zu werden oder eingeschüchtert zu werden. Also das ist ein sehr großes Problem, aber es muss sich natürlich auch der Europarat um diese Leute kümmern, die jetzt in den Gefängnissen sitzen. Der Europarat hat ein Komitee zur Prävention von Folter in den Mitgliedsländern aufgebaut und damit auch in der Türkei. Nach dem muss sich auch die Türkei richten, und der Europarat soll jetzt Beobachter in die Gefängnisse in die Türkei schicken, damit sie dort sehen können, wie die Bedingungen dort sind.
    Simon: Ist das Ihre Forderung oder passiert das jetzt?
    Büttner: Wir wissen noch nicht, ob das passiert, allerdings war natürlich der Generalsekretär des Europarats vor Kurzem in der Türkei, und ich hoffe, dass er das auch angesprochen hat, dass er auch darauf gedrungen hat, dass Beobachter von dem Komitee jetzt in die Türkei reisen dürfen. Also das heißt, wir fordern das, vor allen Dingen auch vom Europarat, dass er dafür eintritt und dass auch die Bundesregierung sich dafür einsetzt. Sicher wissen wir das noch nicht.
    Simon: Der Generalsekretär – Sie sprachen es an – des Europarats war letzte Woche in der Türkei. Der hat aber auch ganz klar Verständnis geäußert, dass die Türkei gegen diejenigen vorgeht, die über ein geheimes Netzwerk – so Thorbjörn Jagland wörtlich –, also die Gülen-Bewegung, die Institutionen infiltriert hätte.
    Büttner: Das ist richtig, das habe ich auch so wahrgenommen. Es ist natürlich so, dass wir auch den Putsch vom 15. Juli verurteilen, das war wirklich ein Versuch, die Staatsordnung in der Türkei zu stürzen. Viele Leute haben sich dagegen gewehrt. Sie sind gegen die Panzer vorgegangen, haben sich für die Demokratie eingesetzt, und einige davon haben auch mit ihrem Leben bezahlt. Das ist also wichtig, dass die, die für den Putsch verantwortlich waren, auch zur Rechenschaft gezogen werden, dass sie dann auch im Gefängnis landen. Allerdings nur, wenn sie einem rechtstaatlichen Verfahren ausgesetzt sind, und das ist die Voraussetzung dafür, dass es dann auch zu den Verurteilungen dieser Putschisten kommen darf. Jagland hat das hoffentlich auch so dargestellt.
    Bundesregierung soll sich stärker mit der Türkei beschäftigen
    Simon: Herr Büttner, was Sie gerade sagen als Vertreter von Human Rights Watch, das ist im Prinzip das, was auch die Bundesregierung heute zum Beispiel wieder mit dem Besuch von Staatssekretär Ederer aus dem Auswärtigen Amt in Ankara versucht hat darzustellen. Auf der einen Seite Verständnis, dass man den Putsch aufarbeitet, auf der anderen Seite aber stopp, ihr müsst schauen, dass euer Rechtstaat nicht in Gefahr gerät. Das heißt, Sie unterstützen diese Haltung der Bundesregierung?
    Büttner: Diese Haltung, diese Position, dass man einerseits ganz klar den Putsch verurteilt, aber auf der anderen Seite ist es richtig, sich auch dafür einzusetzen, dass Menschenrechtstandards jetzt nach dem Putsch gewahrt werden, die finde ich richtig, und da unterstütze ich die Bundesregierung. Gleichzeitig kann sie sich aber schon noch dezidierter äußern. Wir denken vor allen Dingen, dass sie stärker sich für Einzelfälle einsetzen kann, dass schnell jetzt auch Visa, Nothilfevisa gewährt werden, wenn sich Journalisten, Richter, Staatsanwälte an die deutsche Botschaft oder an die Bundesregierung wenden. Ich denke auch, dass sie sich expliziter dafür aussprechen kann, dass Zugang zu den Gefängnissen geschaffen wird für den Europarat, und ich denke auch, dass die Bundesregierung sich im Rahmen des OSZE-Vorsitzes stärker sich jetzt mit der Türkei beschäftigen muss. Da ist der Schwerpunkt bis jetzt Russland und die Ukraine gewesen, aber es ist jetzt auch wichtig, dass man die Perspektive hier auf die Türkei lenkt und in der Türkei sich auch für eine Achtung der Menschenrechte einsetzt.
    Simon: Es gab ja auch in der Vergangenheit immer mal wieder Probleme in Sachen Menschenrechten, zum Beispiel wenn es um Kurden ging, aber auch in anderen Fällen. Hat denn das, was in den letzten drei Wochen passiert, für Sie eine neue Qualität?
    Büttner: Die Lage hat sich noch verschärft. Das kann man so sagen. Was wir hier sehen ist praktisch eine Fortsetzung von einer immer stärkeren Einschränkung der Menschenrechte, die wir schon seit Längerem beobachten. Ganz explizit wurde das 2013 mit der Niederschlagung der Proteste in Istanbul, aber auch dann immer stärker mit dem Vorgehen gehen Journalisten, auch immer stärker mit dem Vorgehen gegen kritische Richter und Staatsanwälte hat sich das gezeigt. Für uns ist das keine Überraschung, was wir jetzt sehen. Es ist fast noch eine Verschärfung, die man eigentlich so seit einiger Zeit auch erwarten konnte.
    "Es gibt nur vage Beweise"
    Simon: Noch eine technische Frage: In der Türkei sind ja jetzt in den letzten drei Wochen viele Richter und Staatsanwälte von ihren Posten entfernt worden. Gibt es da nach Ihrer Kenntnis eigentlich genügend qualifizierte Nachrücker, um rein technisch den Rechtsstaat aufrechterhalten zu können?
    Büttner: Es ist jetzt erst mal wichtig, dass diejenigen, die aus den Ämtern gedrängt worden sind und die sich nichts zuschulden gekommen lassen haben, dass sie wieder zurückkönnen in ihre Ämter. Ich glaube, darauf muss man jetzt drängen. Darauf muss auch die internationale Gemeinschaft und die Bundesregierung auch Wert legen. Wir haben mit einigen Richtern, Staatsanwälten und auch den Angehörigen von Richtern gesprochen, die verhaftet worden sind oder denen Vorwürfe gemacht werden, und da ist es oft so, dass keine Beweise gegen sie vorliegen oder dass nur vage Beweise ihnen vorgeworfen worden. Also es ist wichtig, dass diejenigen, die sich nichts zuschulden gekommen haben lassen, wieder zurückkönnen in ihre Ämter und dass sie nicht mehr länger in Haft sitzen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.