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Türkei
Regierungskritik im Ramadan

Das abendliche Fastenbrechen wird in Istanbul auch zum politischen Protest genutzt: Angeprangert wird die Kluft zwischen arm und reich, fromm und säkular. Das einfache Essen soll auch ein Zeichen setzen gegen üppige Iftar-Feiern in Luxushotels.

Von Susanne Güsten | 29.05.2019
Vorbereitungen für die Tafel auf die Erde in Üsküdar. Auf dem Transparent steht: "Wir sind gekommen, um an der Tafel auf der Erde jenen die Stirn zu bieten, die die Schätze dieser Welt unter sich aufteilen"
Fastenbrechen mit regierungskritischer Botschaft in Istanbul (Deutschlandradio/ Güsten)
Ein kleiner Park im asiatischen Ufer des Bosporus in Istanbul, kurz vor Sonnenuntergang. Ein paar junge Leute legen Teppiche und Decken auf dem Gras aus und fügen sie zu einem langen Streifen zusammen. Je tiefer die Sonne über der Skyline am europäischen Ufer sinkt, desto mehr Menschen kommen in den Park: Männer in Arbeitskluft oder im Anzug, Frauen mit Kopftuch oder ohne, Studenten mit Rucksäcken, auch ein paar Kinder sind dabei. Die Ankommenden kauern sich ohne lange Umstände an die Picknicktafel im Gras, packen mitgebrachte Speisen aus und legen sie auf der Decke aus, um sie mit den Umsitzenden zu teilen. Das sei der wahre Geist des Fastenbrechens im Islam, erzählt einer der Teilnehmer.
"In der islamischen Kultur gibt es eigentlich keine Trennung zwischen arm und reich, aber diese Tradition ist von der AKP zerstört worden. Unter der AKP haben sich reiche Muslime exklusive Räume geschaffen, wo ein Platz beim Fastenbrechen heute mehr kostet, als ein Arbeiter im Monat verdient. Davon haben viele Leute die Nase voll, und auch von der Polarisierung zwischen frommen und säkularen Türken. Wir setzen uns hier alle zusammen zum Essen, um dem etwas entgegenzusetzen."
"Glaube wird missbraucht"
Bedri heißt der Mann, er arbeitet bei einer Telekommunikationsfirma und hat als frommer Muslim den ganzen Tag gefastet. Ihm gegenüber sitzt Sibel, eine 56-jährige Übersetzerin von Romanen, die nicht gläubig ist und im Ramadan nicht fastet. Sie fühlt sich dennoch willkommen:
"Bei der Tafel auf der Erde kommt es nicht darauf an, ob man fromm ist oder nicht. Diese Aktion hat sich zu einem Protest gegen alle Ungerechtigkeiten entwickelt, für die der Glaube heute missbraucht wird, und deshalb bin ich hier – um das zu unterstützen."
Tafel auf der Erde in einem Park im Istanbuler Stadtteil Üsküdar
Tafel zum Fastenbrechen auf der Erde in einem Park im Istanbuler Stadtteil Üsküdar (Deutschlandradio/ Güsten)
In der Ferne ertönt der Ruf des Muezzin, das Signal zum Fastenbrechen, und die Gespräche um die Tafel verstummen, während alle zu essen beginnen. Landesweit nehmen nach Schätzung der Initiatoren zehntausende Menschen an solchen Tafeln teil. Seit acht Jahren gibt es die Aktion, erzählt der Mitbegründer Ihsan Eliacik:
"Angefangen haben wir im Jahr 2011 aus Protest gegen die teuren Feiern zum Fastenbrechen in den Luxushotels. Da haben wir uns vor einem Luxushotel in Istanbul auf den Boden gesetzt, Zeitungspapier ausgebreitet und zum Fastenbrechen ein paar Datteln, Wasser und ein Stück Käse geteilt – so hat das begonnen."
Abendessen als Philosophie-Praxis
Richtig Fahrt nahm die Aktion zwei Jahre später auf, bei den Gezi-Protesten im Sommer 2013, an denen sich auch kritische Muslime wie Eliacik beteiligten. Beim Ramadan in jenem Sommer erschienen zu einer Tafel auf dem Galatasaray-Platz unweit vom Gezi Park rund 15.000 Menschen – die ganze Fußgängerzone war voll. Viele Türken fühlten sich vom Konzept der Tafeln angesprochen, sagt Eliacik:
"Es mag aussehen wie ein Abendessen, aber eigentlich ist es eine Philosophie, zu der wir einladen. Zum Beispiel muss ein gläubiger Muslim beim Fastenbrechen sein Brot mit einem Atheisten teilen können – das sollte weder dem einen noch dem anderen Unbehagen bereiten. Das ist bei unseren Tafeln so, und damit führen wir seit Jahren vor, dass es auch so geht. Wir zeigen damit der Regierung und der Gesellschaft: So sollten wir zusammenleben!"
Zur Tradition ist es seither geworden, dass der Ramadan mit einer Tafel auf dem Galatasaray-Platz im Herzen von Istanbul beginnt – doch in diesem Jahr kam es anders.
"Das ist ja Kommunismus!"
Mit Schlagstöcken prügelte die Polizei am ersten Abend des Fastenmonats die Menschen auseinander, die ihre Teppiche und Decken in der Fußgängerzone auslegen wollten. Ihsan Eliacik wurde von Polizisten niedergeworfen, über das Pflaster geschleift und abgeführt. Die Regierung verbietet schon länger alle Veranstaltungen auf dem Galatasaray-Platz, weil sie Massenproteste unterbinden will. Vor der Tafel auf der Erde fürchte sich die AKP aber ganz besonders, sagt Eliacik:
"Vielen von ihnen ist unsere Tafel ein Dorn im Auge. Denn ohne ein Wort zu sagen, senden wir von dort eine deutliche Botschaft an jene Leute, die Luxus-Empfänge zum Fastenbrechen veranstalten, die mit Luxusautos vorfahren und in Luxushäusern wohnen, die satt und reich sind und sich als Muslime verstehen. Wenn die sehen, dass wir auf dem Boden sitzen und uns Datteln und Wasser teilen zum Fastenbrechen, dann kommt unsere Botschaft durchaus bei ihnen an – und sie gefällt ihnen nicht. Sie sagen mir: 'Was soll das eigentlich? Willst du die Leute zur Rebellion aufstacheln? Das ist ja Kommunismus, was du propagierst!'"
"Kommt, wie setzen uns zusammen"
Und nicht nur das, fährt Ihsan Eliacik fort:
"Manche sagen sogar: 'Wir Muslime haben jahrzehntelang nichts abbekommen, wir waren immer ausgeschlossen von der Macht und dem Reichtum und den Fleischtöpfen des Landes. Nun sind wir endlich an der Macht und können uns auch mal bedienen aus den Fleischtöpfen, und dann kommst du an und predigst Datteln und Wasser und auf dem Boden hocken!'"
Als Verräter gelte er Anhängern der AKP, erzählt Eliacik, weil er als Muslim die muslimische Regierungspartei kritisiere. Dabei sei er es, der im wahren Sinne des Glaubens handele, findet er:
"Wenn du anderen Menschen den Islam erklären willst, musst du mit ihnen in einen Dialog treten. Mit Spannungen, Slogans oder gar Waffengewalt kann man nichts erklären. Wenn wir weiterkommen wollen als Gesellschaft, dann müssen wir zusammen reden können. Mit der Tafel auf der Erde versuchen wir das zumindest im Ramadan zu tun. Wir sagen: 'Kommt, wir setzen uns zusammen und reden, Fromme und Atheisten, Rechte und Linke – das ist unsere Botschaft.'"