Donnerstag, 25. April 2024

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Türkei und EU
"Ankara braucht den Beitrittsprozess"

Bei den deutsch-türkischen Regierungskonsultationen geht es Ankara weniger um die drei Milliarden Euro für die Flüchtlingsversorgung, sagte der Türkei-Experte Günter Seufert im DLF. Vielmehr müsse das Land den EU-Beitrittsprozess vorantreiben - und das nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen.

Günter Seufert im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker | 22.01.2016
    Man sieht Bundeskanzlerin Merkel und den türkischen Regierungschef Ahmet Davutoglu auf einem roten Teppich vor dem Bundeskanzleramt in Berlin.
    Bundeskanzlerin Merkel empfängt den türkischen Regierungschef Ahmet Davutoglu in Berlin. (AFP / Adam Berry)
    Die wirtschaftlichen Gründe sieht Seufert vor allem darin, dass die Türkei in den vergangenen Jahren wichtige Märkte im Nahen Osten verloren habe und die Investitionen zurückgingen. Ebenso von Bedeutung sei es für Ankara, über die Beitrittsgespräche mit der EU sein Image aufzubessern. Die Türkei habe eigentlich einmal die Vision gehabt, die entscheidende Macht im Nahen Osten zu werden - und sei damit gescheitert. Heute sei die Türkei vom Irak und Iran isoliert, in Syrien herrsche Krieg, und mit Ägypten und Israel habe sie schlechte Beziehungen.
    Aber, betonte Seufert, auch für die EU sei es von Bedeutung, den Beitrittsprozess nicht stagnieren zu lassen - denn die Stagnation habe gerade dazu geführt, dass die Defizite in der Rechtsstaatlichkeit aufgetaucht seien. Wenn die EU nun den Prozess wieder aufnehme und vorantreibe, dann könne sie damit wieder Einfluss auf die türkische Politik bekommen. Allerdings, auch das machte Seufert deutlich: Wegen der Flüchtlingskrise sitze Ankara zur Zeit am längeren Hebel. Deutschland und Europa seien stärker auf die Zusammenarbeit angewiesen als umgekehrt.

    Das Interview in voller Länge:
    Ann-Kathrin Büüsker: 35 Schleuser festgenommen - das war am Mittwoch die Meldung. Der deutschen und der türkischen Polizei ist es gelungen, in gemeinsamer Arbeit einen Schlag gegen den organisierten Menschenschmuggel zu landen. Ein Erfolg für die gemeinsame Zusammenarbeit, den manch kritische Stimme aber auch als symbolische Geste sehen möchte, vor allem mit Blick auf den heutigen Tag, denn heute ist der türkische Ministerpräsident Davutoglu zu Regierungskonsultationen bei der Kanzlerin zu Gast. Es geht um die Flüchtlingskrise, um Terrorismus, um die Kurden. Über die Rolle der Türkei möchte ich nun sprechen mit Günter Seufert, Türkei-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik. Guten Tag, Herr Seufert.
    Günter Seufert: Guten Tag!
    Büüsker: Herr Seufert, aus Ihrer Sicht: Mit welchen Absichten kommt Ministerpräsident Davutoglu nach Berlin?
    Seufert: Er möchte natürlich die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union stärken, und seine konkreten Ziele sind wohl weniger die Überweisung der zugesagten drei Milliarden Euro. Das ist, glaube ich, eher eine symbolische Geste. Er will vor allen Dingen Fortschritte in der Visa-Befreiung für die türkischen Staatsbürger in Sachen Reisefreiheit und er will Fortschritte in der Wiederbelebung des Beitrittsprozesses zur Europäischen Union.
    Büüsker: Instrumentalisiert die Türkei diese Flüchtlingskrise, in der wir gerade stecken, für ihre eigenen Vorteile?
    Seufert: Das kann man sagen, dass sie natürlich ihren EU-Kurs jetzt wesentlich stärker vorantreiben kann, weil sie weiß, dass Deutschland, aber auch andere europäische Länder in der Flüchtlingskrise auf sie angewiesen sind. Andererseits kann man sagen: Warum sollte die Türkei die Flüchtlinge zurückhalten? Denken wir daran, dass auch EU-Länder wie Kroatien oder Österreich natürlich die Flüchtlinge durchgewunken haben. Warum sollte die Türkei anders handeln, wenn sie dafür nichts bekommt.
    "Sie braucht den Beitrittsprozess für ihr Image als ein europäisches Land"
    Büüsker: Hat Erdogan tatsächlich ein Interesse an einem Beitritt in die Europäische Union? Er hat ja in den vergangenen Monaten versucht, immer mehr Macht an sich zu binden, versucht, ein Präsidialsystem einzuführen. Wenn er mit der Türkei in die EU käme, müsste er wieder Souveränität abgeben.
    Seufert: Ich denke, wir zäumen das Pferd von hinten auf, wenn wir so denken. Wir sehen, der Beitrittsprozess oder überhaupt die ganze Erweiterungspolitik der Europäischen Union ist ja nicht nur darauf gerichtet, die Europäische Union jetzt wirklich auszudehnen, sondern sie ist darauf gerichtet, eigentlich die Umgebung der Europäischen Union, die Region zu befrieden, zu stabilisieren, zum Beispiel durch demokratische Reformen, und das ist natürlich auch das Ziel bei den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Das heißt, die Europäische Union erwartet nicht nur die Mitgliedschaft, sondern sie erwartet erst mal, dass es eine demokratische und eine stabile Entwicklung gibt, eine Entwicklung hin zur Stabilität.
    Genauso instrumentalisiert heute die Türkei den Beitrittsprozess.
    Sie braucht den Beitrittsprozess für ihr Image als ein europäisches Land, für ihr Image als ein in Europa und im Westen verankertes Land, und sie braucht ihn vor allen Dingen aus wirtschaftlichen Gründen, weil die ganzen Märkte, die die Türkei in den letzten zehn Jahren in ihrer Region erobert hat, vor allen Dingen im Nahen Osten, die sind ja weggebrochen über diese kriegerischen Entwicklungen, und auch die Investitionen gehen zurück aufgrund der schlechten innenpolitischen Lage, der Instabilität. Das heißt, die Türkei will den Beitrittsprozess weitertreiben, und ich denke, wir sollten das ein Stück weit als eine Chance sehen, weil wir nur über den Beitrittsprozess wieder Einfluss auf die innere Politik der Türkei bekommen.
    "Traum von der Türkei als eine Macht im Nahen Osten ist gescheitert"
    Büüsker: Das heißt, die Türkei ist dann auch ein bisschen darauf angewiesen, sich jetzt stärker der Europäischen Union anzuschließen oder hinzuwenden zu dieser?
    Seufert: Ja! Die Türkei hat in den letzten zehn Jahren ja eine Vision gehabt, dass sie sich etabliert als die entscheidende Macht im Nahen Osten, und diese Rechnung ist ja überhaupt nicht aufgegangen. Heute ist die Türkei vom Irak isoliert, vom Iran isoliert, in Syrien herrscht Bürgerkrieg, mit Ägypten hat sie schlechte Beziehungen, mit Israel hat sie schlechte Beziehungen. Das heißt, der ganze Traum von der Türkei als eine Macht im Nahen Osten ist gescheitert. Von daher muss sich die Türkei, ob sie will oder nicht, ob Erdogan will oder nicht, wieder auf Europa orientieren, und je stärker sie sich auf Europa orientiert, desto schwerer wird es für Erdogan, seine autoritären Visionen zu verwirklichen.
    Büüsker: Nun führt die Türkei aber gerade einen Bürgerkrieg gegen die Kurden. Wie können wir als Europäische Union, wie können wir in Deutschland mit so einem Partner zusammenarbeiten?
    Seufert: Ich denke erstens: Das, was Herr Özdemir gerade gesagt hat, obwohl ich ihn sehr schätze und oft seiner Meinung, würde ich diesmal nicht so sehen, dass wir Gesten der Unterwerfung sehen. Ich denke, dass hinter verschlossenen Türen Frau Merkel und auch die anderen deutschen Politiker ganz klar dieses Problem ansprechen werden, auch aus eigenem Interesse. Warum aus eigenem Interesse? Wenn in der Türkei der Kurden-Krieg sich ausweitet, dann produziert die Türkei erneut Flüchtlingswellen, türkische Flüchtlinge. Dann kommen nicht nur Syrer aus der Türkei oder nicht nur Iraker aus der Türkei, sondern dann kommen auch wieder verstärkt türkische Kurden aus der Türkei. Das heißt, die deutsche Regierung hat ein Interesse daran, dass sich die Lage im Südosten der Türkei, in den Kurden-Gebieten beruhigt und dass die Türkei erneut Verhandlungen mit den kurdischen Guerillas oder der PKK aufnimmt. Von daher denke ich schon, dass es diesen Druck hinter verschlossenen Türen geben wird.
    "Im Augenblick sitzt Deutschland oder sitzt Europa am kürzeren Hebel"
    Büüsker: Wenn es dieses Interesse gibt, gut und schön. Aber welche Möglichkeiten hat Deutschland, da auf die Türkei einzuwirken?
    Seufert: Das ist eben meine Rede. Ich denke, dass wir als Deutschland, aber auch als Europäische Union dann mehr Möglichkeiten haben, auf die Türkei einzuwirken, wenn wir den Beitrittsprozess beleben, weil der Beitrittsprozess ja heißt, dass wir direkt in die Institutionen gehen, ins Justizwesen gehen, in die Universitäten gehen und dort konkrete Reformen umsetzen können, oder deren Umsetzungen zumindest überwachen können. Wenn wir den Beitrittsprozess weiter stagnieren lassen - und es waren ja gerade die Jahre, in denen der Beitrittsprozess stagniert hatte, als es die großen Rückschläge in Sachen Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte gab -, wenn wir den Beitrittsprozess stagnieren lassen, dann haben wir überhaupt keinen Einfluss auf die Türkei.
    Büüsker: Sind da die Europäische Union und die Türkei gleichberechtigte Partner, oder sitzt da eine Seite am längeren Hebel?
    Seufert: Das ist das Interessante, weil normalerweise liegt es in der Logik des Beitrittsprozesses, dass die Union der stärkere Partner ist und der Kandidat sich den Erwartungen der Europäischen Union entsprechend verhalten muss. Jetzt ist es aber im Augenblick so, dass über die Flüchtlingskrise besonders Deutschland stärker auf die Zusammenarbeit der Türkei angewiesen ist, als die Türkei auf die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union. Das heißt, im Augenblick sitzt Deutschland oder sitzt Europa am kürzeren Hebel. Aber die Türkei weiß gleichzeitig wegen der Sachen, die ich vorher angesprochen habe, ökonomisch, sicherheitspolitisch, dass sie mittelfristig und langfristig erneut auf Europa angewiesen ist, und genau damit sollten wir pokern, indem wir diesen Beitrittsprozess weiter beleben.
    Büüsker: Inwieweit hat der Anschlag auf eine deutsche Reisegruppe in Istanbul in der vergangenen Woche etwas am deutsch-türkischen Verhältnis verändert?
    Seufert: Ich denke, er hat die Chance dazu, etwas zu verändern. Wir wissen, dass nicht nur Deutschland, sondern auch die USA und der gesamte Westen sehr kritisch war in den letzten Jahren über den laxen Umgang, um das Mindeste zu sagen, der Türkei mit dem Islamischen Staat. Der Anschlag in Istanbul hat natürlich Deutsche getroffen, aber er hat auch die türkische Tourismusindustrie getroffen und der Türkei wohl endlich klar gemacht, dass der Islamische Staat ein wesentlich gefährlicherer Gegner ist als die Kurden, weil mit den Kurden kann man verhandeln. Mit dem Islamischen Staat kann man leider nicht verhandeln.
    "Diese beiden Routen wären natürlich kontrollierbar"
    Büüsker: Unser Korrespondent aus der Türkei, der hat heute Morgen in unserem Frühprogramm gesagt, dass die Türkei gar nicht die Lage vor Ort im Griff hätte und gar nicht in der Lage sei, Flüchtlinge von ihrer Reise nach Europa abzuhalten. Wie würden Sie das einschätzen?
    Seufert: Ich würde das nicht schwarz-weiß malen und würde sagen, sie ist in der Lage oder sie ist nicht in der Lage. Wir haben gesehen, dass gleich nach dem Gipfel am 29. November zwischen der Türkei und den europäischen Staats- und Regierungschefs die Türkei sehr wohl in der Lage war, die Zahl der Reisen vom türkischen Festland auf die griechischen Inseln ganz stark zu reduzieren, und wir sehen heute, dass die Zahlen wieder zugenommen haben und dass das beides eigentlich immer über zwei Routen geht, nach Kos und nach Lesbos, und diese beiden Routen wären natürlich kontrollierbar.
    Büüsker: Sie haben sich jetzt ganz klar für Verhandlungen ausgesprochen vonseiten der Europäischen Union. Hat die EU, hat Deutschland überhaupt irgendeine Alternative zur Türkei, oder müssen wir das tatsächlich auch machen?
    Seufert: Ich denke, wir haben keine Alternativen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass gerade Seegrenzen nur in Kooperation mit den Staaten an der gegenüberliegenden Küste zu kontrollieren sind. Und wenn wir Seegrenzen kontrollieren wollen, dann müssen wir mit der Türkei kooperieren.
    Büüsker: Günter Seufert war das, Türkei-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik. Vielen Dank für Ihre Einschätzungen.
    Seufert: Keine Ursache.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.