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Türkei und Russland
"Wie bei Muskelspielen unter Halbwüchsigen"

Der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, hat die Spannungen zwischen Russland und der Türkei als absehbar bezeichnet. Es sei nur eine Frage der Zeit gewesen, bis die Lage in der Region um Syrien eskaliere, sagte Ischinger im Deutschlandfunk. Ankara habe mehrfach vor der Verletzung seines Luftraums gewarnt.

Wolfgang Ischinger im Gespräch mit Christiane Kaess | 25.11.2015
    Wolfgang Ischinger, Leiter der Münchener Sicherheitskonferenz.
    Es müsse in erste Linie an einem diplomatischen Weg gearbeitet werden, sagte Wolfgang Ischinger, Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz. (picture alliance / ZB / Karlheinz Schindler)
    Als Konsequenz aus dem Abschuss des russischen Kampfflugzeugs durch die Türkei müsse die NATO wieder stärker mit dem russischen Militär kommunizieren. Die Aussetzung des NATO-Russland-Rats sei ein Fehler gewesen. Es sei wichtig, dass die Kontakte auf militärischer Ebene nun endlich zustandekämen.
    Ischinger beklagte zudem, dass es keine Strategie der Luftangriffe in Syrien gebe. "Die Koordinierung der Luftschläge funktioniert in der Tat zurzeit überhaupt nicht." Ischinger sprach in dem Zusammenhang von einem "absoluten Chaos": So führe unter anderem die Türkei "eine Art Kleinkrieg gegen Russland" und der französische sowie der amerikanische Präsident verbinde sich zumindest verbal mit Russland.
    Nun müssten vor allem die größeren Mächte selbst einen kühlen Kopf bewahren, betonte Ischinger. Es müsse in erste Linie an einem diplomatischen Weg gearbeitet werden und sich nicht nur auf die "Frage kaprizieren, Bundeswehr nach Syrien". Davon sei keine Rede, so der Diplomat und Jurist. Vielmehr sollte sich Europa die Frage stellen, wie es mit einer Stimme sich einbringen könne, sodass die eigenen Interessen gewahrt würden.

    Das Interview in voller Länge:
    Christiane Kaess: Die feste Zusage des britischen Premierministers David Cameron, dass dieser das Parlament fragen werde, die britische Luftwaffe auch in Syrien einzusetzen, die hatte sich Francois Hollande bei seiner diplomatischen Initiative für eine Allianz gegen den IS gerade eingeholt. Aber noch bevor Hollande gestern mit US-Präsident Obama zusammenkam, erlitten alle internationalen Bemühungen für eine Lösung für Syrien einen herben Rückschlag. Die Türkei hat ein russisches Kampfflugzeug an der Grenze zu Syrien abgeschossen - aus der Sicht Ankaras, weil es türkischen Luftraum verletzt habe. Moskau widerspricht dem. Das Verhältnis zwischen der Türkei und Russland, die beide nötig sind, um eine Lösung für Syrien zu finden, es ist stark beschädigt.
    Unterdessen reist Bundeskanzlerin Angela Merkel heute zu einem Treffen mit dem französischen Präsidenten nach Paris. Morgen wird Hollande dann den russischen Präsidenten Putin in Moskau treffen und schließlich am kommenden Sonntag den chinesischen Präsidenten Xi Jinping. Aber was bringt diese Krisendiplomatie vor dem Hintergrund des gestrigen Vorfalls noch? - Wolfgang Ischinger ist jetzt am Telefon, langjähriger Diplomat und Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz. Guten Morgen, Herr Ischinger.
    Wolfgang Ischinger: Guten Morgen.
    Kaess: War es abzusehen, dass so etwas passieren würde wie der Vorfall gestern?
    Ischinger: Man musste es befürchten. Ich gehöre einem Verein an des European Leadership Network, das seit über einem Jahr in regelmäßigen Berichten darauf hinweist, dass die Zahl potenzieller Berührungen, um es mal untechnisch auszudrücken, zwischen russischen und westlichen Flugzeugen, Schiffen, Hoheitsgebieten und so weiter in den letzten vielen Monaten dramatisch zugenommen hat und dass es nur noch eine Frage der Zeit sein würde, bis irgendwann einmal jemand auf einen falschen Knopf drücken würde und mögliche Eskalationsmaßnahmen die Folge sein würden. Insoweit konnte man das kommen sehen!
    Kaess: Und, Herr Ischinger, dieses auf den falschen Knopf drücken, war das Ihrer Meinung nach ein Unfall oder eine überhitzte Reaktion der Türkei, bei der man sich aber durchaus bewusst war, was man tat, denn es gab ja wiederholt Provokationen von russischer Seite?
    Ischinger: Es ist in solchen Situationen so, dass beide Seiten - man muss es leider so ausdrücken - sich wie bei Muskelspielen unter Halbwüchsigen gegenseitig testen. Russland testet, ob die Flugabwehr, ob das Flugabwehrradar beispielsweise in der Türkei oder im Baltikum, wie gut das funktioniert. Deswegen fliegt man da möglichst nahe heran oder auch mal drüber, um zu sehen, was passiert. Das muss man wissen, um vorbereitet zu sein. Was nun genau passiert ist, ob das Flugzeug im Augenblick des Abschusses auf türkischem oder syrischem Gebiet war, das wird sich vermutlich nicht endgültig mit letzter Klarheit festlegen lassen. Nur klar ist eins: Die Türkei hat gewarnt, hat immer wieder gewarnt, hat auch in diesem Fall gewarnt. Insoweit kann sie schon behaupten, dass sie zur Verteidigung ihres Territoriums berechtigt sei. Man mag das dann eine Überreaktion nennen.
    Die Folge muss doch sein, dass es jetzt endlich - viele Fachleute fordern das ja nun schon seit vielen Monaten, seit den Zuspitzungen im west-östlichen Verhältnis -, dass es nun endlich zu Kontakten, und zwar laufenden, permanenten Kontakte auf militärischer Ebene zwischen der NATO und Russland, zwischen den einzelnen betroffenen Staaten und Russland kommt, damit man sich abstimmt und sich nicht hinterher mit Vorwürfen überschüttet, wenn so etwas unglücklicherweise nun passiert.
    Kaess: Wir können gleich noch ein bisschen eingehender über die Konsequenzen sprechen, die sie jetzt gerade angesprochen haben. Ich möchte trotzdem noch eine andere Frage stellen, auch wenn sie vielleicht im Moment in der Diskussion ein Nebenschauplatz ist. Sie haben selber noch vor ein paar Tagen gesagt, Sie könnten keinen Grund sehen, warum Deutschland sich nicht an den Luftschlägen in Syrien beteiligen sollte. Ist dieser Vorfall jetzt der beste Beweis, dass Deutschland das auf keinen Fall tun sollte?
    Ischinger: Ich sehe den Zusammenhang nicht.
    "Die Koordinierung der Luftschläge funktioniert in der Tat zurzeit überhaupt nicht"
    Kaess: ..., weil die Koordinierung der Luftschläge bei so vielen Nationen, die dort involviert sind, eventuell einfach zu schwierig ist?
    Ischinger: Die Koordinierung der Luftschläge funktioniert in der Tat zurzeit überhaupt nicht. Aber das ist doch überhaupt das Grundproblem. Wo ist denn hier nicht nur eine deutsche, sondern eine europäische Syrien-Strategie, eine politisch-militärisch-humanitäre Gesamtstrategie? Die kann ich noch nicht einmal im Ansatz erkennen. Präsident Hollande verbündet sich mit Russland, zumindest verbal. Dasselbe macht übrigens auch Präsident Obama. Die Türkei führt, lassen Sie es mich so ausdrücken, eine Art Kleinkrieg gegen Russland, ist aber gleichzeitig NATO-Partner. Das ist doch das absolute Chaos und deswegen, glaube ich, ist das allerwichtigste nicht die Frage, ob und wie Deutschland sich jetzt auch noch mit ein paar Kampfjets beteiligt, wobei ich das im Sinne der Solidarität weiterhin keineswegs für abwegig halten würde.
    Aber der entscheidende Punkt ist doch: Wir müssen mit aller Kraft danach trachten, dass die Wiener Verhandlungen, die ja nun durchaus Erfolg versprechend angefangen haben, dass die verstetigt werden, dass hier eine dauerhafte Konfliktvermeidungs- und Friedenskonferenz daraus wird. Im Grunde müsste die Tag und Nacht, 24 Stunden am Tag tagen unter Beteiligung aller, um solche Zwischenfälle zu vermeiden, um den erstrebten Waffenstillstand, der ja nun das allererste Ziel dieser Verhandlungen sein soll, überhaupt nach vorne zu bringen und um dann in einem weiteren Schritt über eine politische Friedenslösung gemeinsam nachzudenken. Hier müssen alle an einen Tisch!
    "Noch viel diplomatische Kärrnerarbeit zu leisten"
    Kaess: Herr Ischinger, Sie verlangen diese Gesamtstrategie. Sie verlangen die Kontakte. Wie soll das passieren? Muss der NATO-Russland-Rat, der wegen der Ukraine-Krise ausgesetzt wurde, muss der wieder ins Spiel kommen?
    Ischinger: Der sollte ohnehin schon die ganze Zeit im Spiel sein.
    Kaess: Warum passiert das nicht?
    Ischinger: Ich habe es für einen großen Fehler gehalten, ihn überhaupt auszusetzen. Man hat damals zum Zeitpunkt der Krim-Annexion durch die Russische Föderation den NATO-Russland-Rat ausgesetzt. Ich gehöre zu denen, die der Meinung sind, dieses Instrument ist exakt für den Fall geschaffen worden, dass es Krisen gibt. Das ist ein Krisen-Bewältigungs-Hilfsinstrument. Es bei Seite zu legen im Augenblick der Krise, ist die falsche Reaktion. Das sehe nicht nur ich so, das sehen viele so. Aber es jetzt wieder einzuberufen, ist natürlich dann auch eine Frage der Gesichtswahrung für manche, und viele unserer NATO-Partner sind nicht meiner Meinung, sind der Meinung, wir wollen uns jetzt mit Russland, solange die Ukraine-Frage nicht geklärt ist, nicht in Brüssel an einen Tisch setzen. Da ist noch viel diplomatische Kärrnerarbeit zu leisten, bevor das soweit ist.
    "Die größeren Mächte müssen selbst einen kühlen Kopf bewahren"
    Kaess: Nach dem, was sie sagen, droht dann nicht nur eine Eiszeit zwischen Türkei und Russland, sondern auch zwischen Russland und der NATO nach diesem Vorfall?
    Ischinger: Ich glaube, hier geht es jetzt darum, dass die größeren Mächte selbst kühlen Kopf bewahren. Ich hätte mir ja gewünscht, dass die Initiative für die Wiener Verhandlungen eine Initiative der Europäischen Union gewesen wäre. Das wäre ein Zeichen gewesen, dass Europa sich endlich bewusst wird, dass wir doch die Leidtragenden des Konflikts langfristig sind, wenn wir ihn nicht in den Griff bekommen - siehe die Million Flüchtlinge, die wir bereits bei uns haben. Nun haben die USA die Initiative ergriffen, gemeinsam mit Russland. Das ist völlig in Ordnung so und ich gehe davon aus, dass es an Präsident Obama, an Präsident Putin und einigen wenigen anderen liegen wird, darunter auch der Bundeskanzlerin, die ja heute mit Hollande konferieren wird, um nun den Weg nach vorne zu beschreiben. Das muss in erster Linie ein diplomatischer Weg sein. Wie gesagt, wir sollten uns nicht immer sofort nur auf diese Frage kaprizieren, Bundeswehr nach Syrien - davon redet ja kein Mensch -, sondern wir sollten uns die Frage stellen, wie kann Europa, gemeinsam mit einer Stimme sprechend, sich in dieses Konzert so einbringen, dass unsere Interessen gewahrt sind.
    "Wir brauchen die Zusammenarbeit mit Russland"
    Kaess: Herr Ischinger, Sie haben jetzt mehrmals angesprochen Russland als Partner. Ist Russland nicht ein sehr fragwürdiger Partner?
    Ischinger: Man kann sich die Partner nicht immer aussuchen. Und in dieser Welt gibt es nur ein Russland: Das ist unser großer Nachbar. Wir brauchen die Zusammenarbeit mit Russland. Wir suchen sie ja auch bei der Bewältigung des Krim-Konflikts im Normandie-Format, in dem die Bundeskanzlerin nun seit vielen, vielen Monaten mit Putin um jedes Wort, um jeden Satz ringt. Wir brauchen die Zusammenarbeit mit Russland offensichtlich auch bei der Bewältigung der Konflikte im Nahen Osten, also in Syrien.
    Eins jedenfalls, Frau Kaess, kann im Rückblick nur als ganz, ganz falsch betrachtet werden. Aus der deutschen Politik heraus wurde damals, als der Syrien-Konflikt ausbrach, 2011, also vor vier Jahren, wurde gesagt, ja um Gottes Willen, bloß nicht intervenieren, da bricht ja dann ein Flächenbrand aus. Wir haben dann alle zusammen, die USA, ganz Europa, nicht interveniert. Wir haben versucht, eher wegzuschauen. Die Folge war, dass der Flächenbrand von selber ausgebrochen ist und jetzt direkt vor unserer Haustür landet. Mit anderen Worten, die Konsequenz lautet aus meiner Sicht: Wegschauen schafft auch Schuld und Verantwortung. Damals waren es ein paar tausend Tote, jetzt sind es ein paar hunderttausend Tote und die Zahl steigt weiter an. Deswegen geht es jetzt darum, entschlossen einen diplomatischen Weg vorzuzeigen, der unter Umständen auch den Einsatz militärischer Mittel erfordern wird. Denn nur wenn alle Beteiligten in Syrien zu dem Ergebnis kommen, dass sie nur auf friedlichem Weg ihren Teil des Kuchens in Syrien haben werden, dass sie sich nicht selber militärisch durchsetzen können, nur dann werden sie sich an den Tisch setzen. Diese Lage müssen wir herbeiführen, egal wie!
    Kaess: ... sagt Wolfgang Ischinger, langjähriger Diplomat und Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz. Danke für dieses Gespräch heute Morgen.
    Ischinger: Danke schön! Auf Wiederhören, Frau Kaess.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.