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Türkei vor dem EU-Gipfel
Faustpfand Visaerleichterungen

Plötzlich ist die Visafreiheit für Türken in greifbare Nähe gerückt. Schon ab Ende Juni könnten türkische Bürger wesentlich unkomplizierter in den Schengenraum reisen. Ob es dazu kommt, hängt allerdings vom Verlauf des aktuellen Türkei-EU-Gipfels in Brüssel ab.

Von Luise Sammann | 17.03.2016
    Innenansicht des Istanbuler Flughafens Sabiha Gökcen im asiatischen Teil der Stadt vom 27.10.2011
    VIele Türken hoffen auf Visaerleichterungen im Schengenraum. (IMAGO / Wiegand Wagner)
    Die Menschen, die mit losen Zetteln, Ordnern und Reisepässen in der Hand in einem Bürogebäude im Zentrum Istanbuls verschwinden, wirken genervt.
    Hinter der Glastür befindet sich das Visabüro des Dienstleisters Idata. Türken, die nach Deutschland, Italien oder ein anderes Schengen-Land reisen wollen, müssen hier vorsprechen. Einige der Antragsteller, die an diesem Morgen ihre Pässe einreichen, sind aufgeregt, andere widerwillig, fast wütend.
    "Natürlich ist dieses Visaverfahren nicht schön für uns. Es kostet jede Menge Zeit und auch Geld alle geforderten Dokumente zusammen zu sammeln",
    schimpft Reyhan, eine angehende Ärztin, die zu einer Tagung nach Mailand will. Und Rentner Neptün, dessen Söhne in Berlin leben, meint:
    "Sie beleuchten dein ganzes Privatleben, bevor sie dir ein Visum geben. Sie wollen deine Kontoauszüge sehen, deinen Gehaltsnachweis, deinen Mietvertrag. Ich wünschte, das Ganze würde abgeschafft und wir dürften endlich wie zivilisierte Menschen nach Europa reisen."
    Visafreiheit in greifbarer Nähe
    Tatsächlich könnte es dazu schon bald kommen. Denn im Zuge der Flüchtlingskrise ist die Visafreiheit für Türken plötzlich in greifbare Nähe gerückt. Schon ab Ende Juni, so verkündete Premier Ahmet Davutoglu seinen Bürgern nach dem letzten EU-Gipfeltreffen in Brüssel, könnten sie ohne Visa in den Schengen-Raum reisen. Nicht nur die AKP-nahen Medien im Land feierten die Ankündigung voreilig als Durchbruch.
    72 Bedingungen für die Visafreiheit
    72 Bedingungen muss der EU-Beitrittskandidat Türkei für die Visafreiheit erfüllen. Von technischen Details, wie Fingerabdrücken auf türkischen Pässen, bis zu Mammutaufgaben, wie der Zusammenarbeit mit Problemnachbarn wie Bulgarien oder gar Zypern.
    Für "von vornherein zum Scheitern verurteilt" halten Experten wie der türkische Politologe Cengiz Aktar das Projekt deswegen. Experten wie Alper Ecevit vom Lehrstuhl für EU-Beziehungen an der Istanbuler Bahcesehir-Universität halten zumindest den Termin Ende Juni für illusorisch.
    "In einigen der 72 Bedingungen der EU geht es um Themen wie den Kampf gegen Korruption und organisierte Kriminalität. Felder also, die zu den größten innenpolitischen Problemen hier gehören. Jeder, der die Türkei kennt, weiß, dass man die jetzt nicht mal eben in drei Monaten lösen kann. "
    Nur etwa die Hälfte der EU-Bedingungen sei bisher erfüllt, sagen Insider. Eine Großzahl der anderen Hälfte halte die türkische Seite für so gut wie gelöst – Brüssel allerdings nicht.
    Vom angeblich alles entscheidenden EU-Gipfel erwartet Politologe Ecevit deswegen im besten Fall einen Aufschub, keine Entscheidung. Dass manche Europäer dennoch schon jetzt Alarm schlagen, hält er für unangemessen. Selbst, wenn die Visafreiheit käme, bräuchten sich die Europäer davor nicht zu fürchten.
    "Schon jetzt werden ja 95 Prozent der türkischen Visaanträge genehmigt. So viel ändert sich also gar nicht. Und selbst wenn der Visazwang jetzt wegfiele, würden damit ja nicht gleich Wohn- oder gar Arbeitsgenehmigungen gegeben, sondern nur maximal drei Monate Aufenthalt im Schengen-Raum.
    Zudem ist der Zustand der europäischen Wirtschaft den Türken sehr wohl bekannt."
    Schreckgespenst IS-Terror
    Auch Schreckgespenster, die Kritiker in der EU an die Wand malen, wie jenes von türkischen IS-Terroristen, die in Zukunft problemlos nach Europa gelangen könnten, hält Experte Ecevit für vorgeschoben.
    "Wenn wir auf die Terroranschläge der letzten Zeit gucken, egal ob in Frankreich oder in der Türkei, dann steckten dahinter immer Einheimische und nicht etwa Radikale, die mit ihren Waffen aus dem Ausland kommen und anderswo Anschläge verüben. "
    Kein Pieps von der EU
    Was bleibt ist die Sorge all derer, denen die zunehmend schlechte Menschenrechtslage in der Türkei am Herzen liegt. Denn dazu schweigt die EU fast schon demonstrativ, seit sie in der Flüchtlingsfrage auf die Türkei angewiesen ist.
    "Wir haben Europa immer als unsere Rettung gesehen", sagt davon bitter enttäuscht, die Istanbuler Menschenrechtsaktivistin Mucella Yapici.
    "Aber gerade jetzt, wo hier ganze Stadtteile im kurdischen Südosten angegriffen und Journalisten auf völlig inakzeptable Weise eingesperrt werden, gibt es keinen "Pieps" von der EU".