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Türkei
Wie Erdogan die Justiz umbaut

Vor allem bei der Rechtsstaatlichkeit bescheinigt die EU-Kommission der Türkei in ihrem jüngsten Fortschrittsbericht eine negative Entwicklung. Die Gewaltenteilung ist praktisch aufgehoben, die Justiz ist der Exekutive unterworfen. Und selbst das Verfassungsgericht soll ausgehebelt werden.

Von Susanne Güsten | 05.11.2020
Turkish President Recep Tayyip Erdogan reacts during a meeting of his ruling Justice and Development Party in Ankara, Turkey, on March 2, 2020.
Erdogan baut das Rechtssystem nach seinem Willen um (Mustafa Kaya / imago images / Xinhua)
Mit Griechenland, Zypern und Frankreich liegt die türkische Regierung im Streit, auch auf Deutschland und Österreich ist sie nicht gut zu sprechen - doch offiziell strebt sie weiterhin die Mitgliedschaft in der Europäischen Union an. Die Verhandlungen über einen EU-Beitritt der Türkei laufen seit nunmehr 15 Jahren. Inhaltlich kommen sie schon lange nicht mehr voran, wie die EU-Kommission in ihrem jüngsten Fortschrittsbericht zur Türkei feststellt. Vor allem bei einem Grundwert der EU verzeichnet die Kommission sogar Rückschritte bei der Annäherung an Europa: die Rechtsstaatlichkeit. Dazu heißt es im aktuellen Fortschrittsbericht:
"Den ernsten Bedenken der EU wegen des anhaltenden Abbaus von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Grundrechten und richterlicher Unabhängigkeit wurde nicht Rechnung getragen; vielfach gab es hier weitere Rückschritte. Die Durchsetzung von Grundrechten wird durch die Zersplitterung und eingeschränkte Unabhängigkeit öffentlicher Institutionen im Bereich der Menschen- und Grundrechte behindert. Zusätzlich erschwert wird die Durchsetzung von Rechten durch das Fehlen einer unabhängigen Justiz."
Eine türkische und eine europäische Flagge wehen in Istanbul im Wind (Archivfoto von 2005).
Türkei soll "Negativtrend bei der Rechtsstaatlichkeit umkehren"
Nie zuvor ist der Bericht der EU-Kommission zu den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei so verheerend ausgefallen wie jetzt. Die Kommission formuliert harte Kritik an der rechtsstaatlichen Situation am Bosporus.
Die Türkei wies die Kritik zurück. "Vorurteilsbeladen, ungerecht und maßlos" sei der EU-Fortschrittsbericht mal wieder, entgegnete das türkische Außenministerium: Der Bericht lasse außer Acht, dass die Türkei sich gegen mehrere Terrororganisationen zu wehren habe.
Terrorbegriff sehr weit gefasst
In der Tat hat die türkische Justiz alle Hände voll zu tun mit der Terrorverfolgung, doch das liegt vor allem an der unscharfen Definition des Terrorbegriffs in der türkischen Gesetzgebung, wie die EU kritisiert – danach können auch Meinungsäußerungen oder die Teilnahme an friedlichen Versammlungen als Terror-Straftaten verfolgt werden. Allein im vergangenen Jahr ermittelten türkische Staatsanwälte nach amtlichen Angaben in mehr als 300.000 Fällen wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung; im Vorjahr waren es sogar fast 450.000 Fälle.
Einige Berufsgruppen sind besonders gefährdet: Die Rechtsanwältin Ebru Timtik etwa wurde verurteilt, weil sie mutmaßliche Linksextremisten als Verteidigerin vertrat. Zu ihrem Tod in diesem Sommer erklärte der außenpolitische Sprecher der EU, Peter Stano:
"Wir sind äußerst bestürzt über den Tod von Ebru Timtik - einer Rechtsanwältin, die seit mehr als 200 Tagen im Hungerstreik war, nachdem sie letztes Jahr wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer Terrororganisation verurteilt wurde. Der Hungerstreik von Ebru Timtik für einen fairen Prozess und sein tragisches Ende illustrieren auf schmerzliche Weise, wie dringend notwendig es ist, dass die türkischen Behörden sich glaubwürdig mit der Menschenrechtssituation im Land und den ernsthaften Defiziten der türkischen Justiz befassen."
Menschenrechts-Aktivisten demonstrieren am 25.10.2017 vor einem Gericht in Istanbul (Türkei) gegen den Prozess gegen elf Menschenrechtler, darunter auch der Deutsche Peter Steudtner.
Protest gegen Prozess in Istanbul (dpa-Bildfunk / AP / Lefteris Pitarakis)
Timtik war zu 13,5 Jahren Haft verurteilt worden, weil sie zwischen ihren Mandanten und der linksextremen Gruppierung DHKP-C vermittelt haben sollte – ein Vorwurf, von dem sie zunächst freigesprochen wurde. Doch noch bevor sie das Gefängnis verlassen konnte, wurden die Richter am zuständigen Gericht ausgewechselt, wie der Menschenrechtsanwalt und Oppositionsabgeordnete Sezgin Tanrikulu als Mitglied des Menschenrechtsausschusses im türkischen Parlament berichtete. Der bereits geschriebene Freispruch wurde kassiert und zu einem Schuldspruch revidiert, der in der Berufung später ohne Verhandlung bestätigt wurde. Timtik trat in den Hungerstreik, um ein faires Verfahren einzufordern; sie starb am 27. August dieses Jahres. Tanrikulu schrie im Oppositionssender Halk-TV seine Frustration heraus:
"Junge Anwälte hungern sich zu Tode, um einen fairen Prozess zu fordern – mehr wollen sie doch gar nicht! Sie wollen nur ein faires Verfahren, und dafür sterben sie. Das ist doch nicht auszuhalten! Wie lange wollen wir uns das noch mitansehen?"
Frustration über die Situation der Justiz
Türkische Menschenrechtler sind nicht allein in ihrer Frustration. In einem gemeinsamen Schreiben an die türkische Regierung äußerten mehrere Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen kürzlich tiefe Besorgnis über die Instrumentalisierung der türkischen Justiz für die Verfolgung von Regierungsgegnern und kritisierten die Eingriffe in die Rechte der Verteidigung. Rechtsanwälte dürften nicht unter Druck gesetzt werden, mahnten die UN-Berichterstatter die Türkei, und sie dürften nicht strafrechtlich verfolgt oder mit Berufsverboten belegt werden, um sie zum Schweigen zu bringen.
Porträt von Osman Kavala 2015.
Türkei: Kulturschaffende solidarisieren sich mit Regimekritikern
Auch Kulturschaffende in der Türkei sehen sich Repressionen durch das Regime von Präsident Erdogan ausgesetzt. Deutsche Kulturinstitutionen wie das PEN-Zentrum und der Börsenverein des Deutschen Buchhandels haben zur Solidarität mit ihnen aufgerufen.
Die türkische Justiz zeigte sich ungerührt. Kurz nach dem Tod von Ebru Timtik bestätigte das Verfassungsgericht drakonische Haftstrafen gegen mehrere ihrer Kollegen. Und bei einer Razzia im Morgengrauen wurden im September erneut rund 50 Rechtsanwälte festgenommen, diesmal wegen angeblicher Mitgliedschaft in der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen - einem ehemaligen Verbündeten von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, dem nach einem Zerwürfnis zwischen den beiden der Putschversuch von 2016 zur Last gelegt wird. Insgesamt wurden in den letzten vier Jahren rund 1600 Rechtsanwälte wegen Terrorvorwürfen verhaftet, weil sie als Verteidiger der kurdischen PKK, der linken DHKP-C oder der islamistischen Gülen-Bewegung gedient haben sollen. Mit den Grundwerten der Europäischen Union sei das unvereinbar, sagte EU-Sprecher Stano:
"Starke, unabhängige Rechtsanwälte und unabhängige Richter sind Kernprinzipien eines gerechten Justizsystems, das die Rechtsstaatlichkeit wahrt und die Menschenrechte schützt. Die Europäische Union hat immer wieder betont - und möchte das auch heute wiederholen -, dass die Türkei dringend konkrete Fortschritte bei der Rechtsstaatlichkeit und den Grundrechten an den Tag legen muss, denn das sind die Grundfeste der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei."
Erdogan macht weiter Druck
Doch die Türkei geht in die andere Richtung. Zu Beginn des neuen Justizjahres, das neuerdings im Präsidialpalast eröffnet wird und nicht mehr am Berufungsgerichtshof, kündigte Staatspräsident Erdogan kürzlich weitere Beschränkungen für Anwälte an. Dass die Anwaltskammer von Istanbul öffentlich um Timtik getrauert habe und dass Anwälte in Roben zur Beerdigung erschienen seien, zeige deren Gesinnung, sagte Erdogan:
"Dass Rechtsanwälte so dreist den Terroristen zur Seite stehen, das ist kein hinnehmbares Verhalten. Ich denke, wir müssen uns darüber unterhalten, wie man Anwälten, die mit Terroristen gemeinsame Sache machen, Berufsverbot erteilen kann."
Die Ankündigung folgt auf ein Gesetz, mit dem im Sommer bereits der Einfluss der Anwaltskammern beschränkt wurde – mit ihrer öffentlichen Kritik an den Machthabern gingen sie der Regierung auf die Nerven.

Aus dem Justizapparat selbst, von den Richtern und Staatsanwälten, hat die Exekutive schon lange nichts mehr zu befürchten: Die Gewaltenteilung ist seit der Einführung des Präsidialsystems praktisch aufgehoben. Scharf kritisiert die Europäische Union im Fortschrittsbericht das türkische System zur Ernennung von Richtern und Staatsanwälten: Von den 13 Mitgliedern des zuständigen Gremiums, dem Richterrat, werden vier direkt vom Präsidenten ernannt und sieben von der Mehrheit im Parlament, die von der Regierungskoalition des Staatspräsidenten kontrolliert wird; bei den übrigen zwei handelt es sich um den Justizminister und seinen Stellvertreter, die ebenfalls vom Präsidenten ernannt werden. Das bedeutet: Direkt oder indirekt hängen alle Mitglieder des Richterrats von Erdogan ab – und von ihnen wiederum hängen alle Richter und Staatsanwälte im Land ab.
Zahlreiche Menschen bekunden vor dem Istanbuler Justizpalast ihre Unterstützung für die CHP-Politikerin Canan Kaftancioglu.
Die CHP-Politikerin Canan Kaftancioglu wird von ihren Anhängern zum Gerichtsgebäude begleitet. (BULENT KILIC / AFP)
Versetzung von Tausenden Richtern und Staatsanwälten
Der Rat macht von seinen Befugnissen regen Gebrauch. Allein im vergangenen Jahr wurden mehr als 4000 Richter und Staatsanwälte versetzt – ohne jede Begründung, wie die EU im Fortschrittsbericht notiert. Die Opposition spricht von "mobilen Einsatztruppen" willfähriger Richter. Warum, das erläuterte der Journalist Can Dündar im türkischen Exilsender Arti-TV:
"Das 26. Schwurgericht von Istanbul verurteilte im September 2018 den Oppositionspolitiker Selahattin Demirtas zu einer langjährigen Haftstrafe. Dieselben Richter wurden dann an das 37. Schwurgericht versetzt, das gerade die linken Rechtsanwälte freigesprochen hatte. Der Ausschuss kassierte den Freispruch und ließ die Anwälte wieder verhaften, bevor sie freigelassen werden konnten. Am selben Gericht verurteilten diese Richter dann noch 22 akademische Unterzeichner eines Friedensappells, die Journalisten der Oppositionszeitung Sözcü und Canan Kaftancioglu, die Istanbuler Vorsitzende der Oppositionspartei CHP, die fast zehn Jahre Haft bekam. Dann wurden sie an das 14. Schwurgericht versetzt - das hatte nämlich gerade Mitarbeiter des Geheimdienstes vorgeladen, um über die Ermordung des Journalisten Hrant Dink auszusagen. Der Ausschuss hob diese Vorladung sofort auf und leitete dann ein Verfahren ein, um meinen Besitz einzuziehen."

Dündar war 2016 nach Berlin geflohen, nachdem er wegen der Berichterstattung seiner Zeitung über türkische Waffenlieferungen nach Syrien in Untersuchungshaft genommen worden war und einem bewaffneten Anschlag vor dem Gericht nur knapp entkam. Wenn er nicht aus dem Exil zurückkehre und sich einem Haftbefehl wegen Geheimnisverrats stelle, werde sein gesamter Besitz beschlagnahmt, ordnete das 14. Schwurgericht in seiner neuen Besetzung jetzt an – und ließ das Vermögen des Journalisten dann tatsächlich einziehen: sein Haus, seine Ferienwohnung und das Geld auf seinem Konto.
Der türkische Journalist Can Dündar 
Der türkische Journalist und ehemalige Chefredakteur der Zeitung "Cumhuriyet", Can Dündar, lebte heute im Exil in Berlin (Imago)
Urteil des Verfassungsgerichts wurde einfach ignoriert
Dann wurde die Kammer erneut aktiv: Auf Anweisung des Verfassungsgerichts sollte das 14. Schwurgericht das Verfahren gegen einen Oppositionsabgeordneten neu aufrollen, der zu einer langjährigen Haft verurteilt worden war, weil er Dündars Zeitung die Unterlagen über die Waffentransporte nach Syrien zugespielt haben soll. Das Verfassungsgericht hatte im September entschieden, dass der Abgeordnete durch die Haft in seinen Rechten verletzt wurde, und die Neuverhandlung angeordnet. Doch die neuen Richter am 14. Schwurgericht weigerten sich: Für eine Neuverhandlung gebe es keinen Grund, erklärte das Gericht im Oktober und ließ das Verfassungsgericht abblitzen. Bis in die Nacht hinein berieten die Verfassungsrichter und wagten schließlich doch keinen Protest. Der Jura-Professor Osman Can, der früher selbst am Verfassungsgericht tätig war, rang im Oppositionskanal Medyascope um Fassung:
"Mir fehlen gerade die Worte, um das zu bewerten. Ich finde da einfach keine Worte." Schließlich fasste der Jurist sich doch:
"Wenn das Verfassungsgericht es anordnet, dann muss ein Verfahren neu aufgerollt werden – da gibt es überhaupt keinen Spielraum für Diskussion. Das nachgeordnete Gericht hat kein Recht, dem Verfassungsgericht irgendetwas zu sagen. Dass hier das Schwurgericht das Verfassungsgericht belehren will, was Recht ist und was nicht, das ist eine Anmaßung, die nur aus außerordentlicher Sachkenntnis erwachsen kann oder aus abgrundtiefem Unwissen – und ich fürchte, wir haben es hier mit Letzterem zu tun."
Weiterhin Säuberungswelle im Justizsystem
Abgrundtiefes Unwissen – und vielleicht nicht nur das: Rund 4500 Richter sind in den letzten Jahren aus dem Staatsdienst geworfen und vielfach selbst als Terroristen eingesperrt worden. Die Säuberungswelle rollt noch immer: Erst vor ein paar Wochen entließ der Richterrat wieder elf Richter und Staatsanwälte als angebliche Terrorunterstützer; zwei von ihnen wurden sofort festgenommen. Weil es inzwischen an erfahrenen Richtern fehlt, steigen Berufsanfänger in der türkischen Justiz rasch auf: Die durchschnittliche Berufserfahrung der Richter und Staatsanwälte an den türkischen Gerichten liegt nach Angaben der Anwaltskammer inzwischen bei zweieinhalb Jahren. Bei Amtsantritt bekommen die jungen Juristen den Aufnahmeantrag für die regierungsnahe Juristenvereinigung in die Hand gedrückt, wie der EU-Fortschrittsbericht kritisiert.
Mehrere bewaffnete Polizisten mit Schutzschilden stehen nebeneinander und blockieren eine Straße.
Europarat kritisiert Türkei: Schläge, Elektroschocks, erzwungene Geständnisse
Das Anti-Folter-Komitee des Europarats hat Polizeigewalt und schlechte Haftbedingungen in türkischen Gefängnissen kritisiert und Präsident Erdogan zum Handeln aufgefordert. Dass es dazu kommt, sei laut Dlf-Türkei-Korrespondent Christian Buttkereit aber eher unwahrscheinlich.
Wie es Gerichten ergehen kann, die unabhängige Urteile fällen wollen, musste das 30. Schwurgericht von Istanbul erfahren, als es im Februar den Kulturmäzen Osman Kavala von dem Vorwurf freisprach, die Gezi-Proteste von 2013 angezettelt und damit den Sturz der Regierung betrieben zu haben. Die Richter bekamen ein Disziplinarverfahren an den Hals, das nach Regierungsangaben noch nicht abgeschlossen ist. Und gegen Kavala erwirkte die Staatsanwaltschaft noch am selben Tag einen neuen Haftbefehl – er kam gar nicht erst aus dem Gefängnis heraus und sitzt bis heute in Untersuchungshaft, inzwischen seit mehr als drei Jahren. Eine neue Anklage reichte der Staatsanwalt erst kürzlich nach - einen Tag, bevor das Verfassungsgericht über eine Haftbeschwerde Kavalas entscheiden sollte. Als Anklageschrift könne man das Dokument aber eigentlich nicht bezeichnen, sagte der Rechtsanwalt Veysel Ok der oppositionellen Exilplattform Ahval:
"Eine Anklageschrift muss bestimmten Anforderungen genügen, die im Strafgesetzbuch niedergelegt sind – das ist ein juristischer Begriff. Was der Staatsanwalt hier verfasst hat, erfüllt keine juristischen Kriterien. Man kann es als ein Schreiben bezeichnen, aber eine Anklageschrift ist das nicht.
Auch inhaltlich ergibt das Schriftstück nicht viel Sinn. Da heißt es zum Beispiel, Kavala sei zu einem bestimmten Datum nach Deutschland gefahren, jemand anderes sei ein anderes Mal nach Amerika gefahren – ein Zusammenhang wird nicht hergestellt, die Relevanz wird nicht begründet. Dafür forderte der Staatsanwalt dann lebenslange Haft unter erschwerten Bedingungen plus weitere 20 Jahre wegen Umsturzversuches und Spionage. Bei der Lektüre sei ihm schlecht geworden, sagt Rechtsanwalt Ok:
"Ich habe mich richtig geschämt beim Lesen. Die Aussage ist im Kern: Wir haben Osman Kavala eingesperrt, weil wir ihn zu lebenslanger Haft verurteilen wollen. Der restliche Text ist eigentlich nur Geschreibsel, um die Seiten zu füllen."
Mustafa Yeneroglu (AKP), der Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses des türkischen Parlaments
AKP-Politiker zu Yücel-Richterspruch: "Das ist ein Urteil für den Rechtsstaat in der Türkei"
Mustafa Yeneroglu von der türkischen Regierungspartei AKP hat das Urteil über die Unrechtmäßigkeit von Deniz Yücels Haft begrüßt. Präsident Erdogans frühere Äußerungen in der Sache seien "dem Fall nicht zuträglich" gewesen, sagte er im Dlf.
Beweisführung wird immer unwichtiger
Die angebliche Beweisführung in dem Dokument ist so absurd, dass sich der Eindruck aufdrängt, die Beweislage sei völlig egal – und möglicherweise ist das auch so. Denn zunehmend sind es die Staatsanwälte, die in der Justiz das Sagen haben. Die bizarre Anklageschrift gegen Kavala wurde jedenfalls vom Gericht klaglos angenommen. Und der Staatsanwalt, der sie verfasste, wurde ein paar Tage später zum stellvertretenden Justizminister ernannt. Kraft dieses Amtes gehört der Ankläger nun dem Richterrat an, der die Richter und Staatsanwälte im ganzen Land ernennt und entlässt. Es handelt sich bei ihm um denselben Staatsanwalt, der den deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel ein Jahr lang hinter Gittern auf eine Anklageschrift warten ließ und ihn anschließend wegen Beleidigung verklagte.

Ein Gericht müsste auch viel Mut haben, um einem Ankläger wie Yüksel Kocaman zu widersprechen, dem Oberstaatsanwalt der Hauptstadt Ankara. Als Kocaman vor ein paar Wochen heiratete, standen ihm der Justizminister, der Innenminister und der Generalstabschef als Trauzeugen zur Seite. Von der Trauung fuhr er mit seiner Braut geradewegs zum Präsidentenpalast, wo er von Erdogan empfangen und beschenkt wurde. Zur Arbeit zurückgekehrt, ließ er Dutzende Politiker der kurdischen Oppositionspartei HDP verhaften – der Vorwurf: Terror. Faik Öztrak, der Vizevorsitzende der kemalistischen Oppositionspartei CHP, klagte vor der Presse:
"Die Justiz unseres Landes ist unter diesem monströsen Regime vollständig zusammengebrochen. Unsere Staatsanwälte stellen sich jetzt nach der Hochzeit im Präsidentenpalast ein, um sich den Segen zu holen. Aus den Staatsanwälten unserer Republik sind Staatsanwälte des Palastes geworden. Die Justiz wird aus dem Präsidentenpalast kontrolliert."
Das Foto zeigt Denzi Yücel. Der Journalist der «Welt», geht zum Amtsgericht Tiergarten zu einer Vernehmung nach einer Rechtshilfeanfrage des 32. Schwurgerichts in Istanbul in der Türkei.
Der Journalist Deniz Yücel war in der Türkei in Haft (dpa-Bildfunk / Michael Kappeler)
Regierung will weiter gegen das Verfassungsgericht vorgehen
Dieser Realität soll nach dem Willen der Regierung jetzt auch die Verfassung angepasst werden. Das Verfassungsgericht sei ein überkommenes Relikt des parlamentarischen Systems und verstoße mit seinen Urteilen gegen das Rechtsempfinden der Nation, erklärte Devlet Bahceli, der nationalistische Koalitionspartner von Erdogan, kürzlich – die Verfassungsrichter hatten mit einem Urteil gerade die Demonstrationsfreiheit verteidigt. Das oberste Gericht müsse von Grund auf umgebaut und dem Präsidialsystem angepasst werden, forderte Bahceli. Erdogan pflichtete ihm bei und kündigte an, er werde das Vorhaben unterstützen. Osman Can, der frühere Berichterstatter am Verfassungsgericht:
"Überall auf der Welt gibt es mal Spannungen zwischen Verfassungsgericht und Regierung. Aber in der Türkei gehen diese Spannungen so weit, dass die Regierung das Verfassungsgericht nicht mehr anerkennt und sogar schließen will. So weit sind wir schon. Der Grund ist, dass das Verfassungsgericht einen Mindeststandard an individuellen Rechten und Freiheiten bewahren will, und das wird nicht toleriert. So sieht es bei uns aus."
Türkei: "Schleichender Prozess von einer Demokratie zu einer Autokratie"
Die Chancenungleichheit im Medienbereich sei eine der wesentlichsten Einschränkungen im Vorfeld der Türkei-Wahl gewesen, sagte der CDU-Politiker und Wahlbeobachter Matern von Marschall im Dlf. Er sprach sich aber gegen eine Kappung der Beziehung zur Türkei aus. Man dürfe den Menschen nicht die Hoffnung nehmen.
Für die Abschaffung des Verfassungsgerichts wäre allerdings eine verfassungsändernde Mehrheit im Parlament nötig, und die haben Bahceli und Erdogan auch zusammen nicht. Noch brenne beim Verfassungsgericht das Licht, twitterte ein Verfassungsrichter neulich zu einem Foto des erleuchteten Gerichtsgebäudes, doch diesen Tweet musste er bald löschen. Das Gericht wolle sich über den Volkswillen stellen, empörten sich Regierungspolitiker – mit dem Begriff "Volkswillen" bezeichnet die AKP ihr Wählermandat. Wann das Licht am Verfassungsgericht brenne und wann es ausgeschaltet werde, so erklärte der Justizminister, das bestimme in der Türkei nur das Volk.