Freitag, 29. März 2024

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Türken in Deutschland
"Man muss den Menschen nochmal Deutschland als Heimat anbieten"

Die in Deutschland lebenden Türken haben in weit stärkerem Maße für Erdogan gestimmt als ihre Landsleute in der Türkei. Ein Problem sei, dass Deutschtürken ohne deutsche Staatsbürgerschaft hierzulande nicht wahlberechtigt seien, sagte Gökay Sofuoglu, Bundesvorsitzender der türkischen Gemeinde, im Dlf.

Gökay Sofuoglu im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 26.06.2018
    Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan fahren mit Türkeifahnen nach den ersten Hochrechnungen zur türkischen Parlaments- und Präsidentenwahl durch den Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg
    Nach den ersten Hochrechnungen, die den Wahlsieg des türkischen Präsidenten Erdogan voraussagten, jubelten auch viele Deutschtürken wie hier in Hamburg (picture alliance/ dpa/ Kay Nietfeld)
    Dirk-Oliver Heckmann: Alle Hoffnungen der Opposition und derjenigen Türken, die Erdogan lieber heute als morgen loswerden wollen, sie sind zerstoben. Schon im ersten Wahlgang hat der türkische Präsident die absolute Mehrheit erzielt - bei einer Wahl allerdings, die von Fälschungsvorwürfen überschattet und durch einseitige Berichterstattung der staatlichen Medien geprägt war.
    Die AKP hat die absolute Mehrheit zwar verfehlt; sie kann aber mit der nationalistischen MHP weiterregieren. Und mit der Wahl sind hoch umstrittene Verfassungsänderungen in Kraft getreten, die Erdogan zu so etwas wie einem Alleinherrscher machen, so die Kritiker.
    Was bemerkenswert ist: Die in Deutschland lebenden Türken und Deutschtürken, die an der Wahl teilgenommen haben, sie haben in weit stärkerem Maße für Erdogan gestimmt als ihre Landsleute in der Türkei selber. Fast zwei Drittel nämlich stimmten für den Staatschef. In Essen waren es sogar drei Viertel. Die AKP kam in Deutschland auf eine absolute Mehrheit, anders als in der Türkei, und das, obwohl sie alle Zugang zu freien Medien haben.
    Der frühere Chef der Grünen, Cem Özdemir, der hat deshalb eine Debatte über die Integration der Deutschtürken gefordert, denn sie hätten nicht nur Erdogan ihre Zustimmung gegeben, sondern auch der liberalen Demokratie eine Absage erteilt. Darüber wollen wir jetzt reden mit Gökay Sofuoglu. Er ist Bundesvorsitzender der türkischen Gemeinde in Deutschland. Schönen guten Morgen, Herr Sofuoglu!
    Gökay Sofuoglu: Guten Morgen.
    Heckmann: Gibt es gute und schlechte Deutschtürken?
    Sofuoglu: Nein! Es gibt Deutschtürken, die sich ganz unterschiedlich politisch entscheiden, die auch unterschiedlich wählen. Das ist in Deutschland nicht anders, das ist in Ungarn nicht anders, das ist in den anderen Ländern nicht anders.
    Der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD), Gökay Sofuoglu
    Der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD), Gökay Sofuoglu (Gregor Fischer / dpa)
    Heckmann: Muss man als Deutschtürke denn gegen Erdogan sein, oder gibt es vielleicht sogar gute Gründe, für ihn zu sein?
    Sofuoglu: Man muss weder für Erdogan sein, noch gegen Erdogan sein. Das sind mündige Bürger, die sich darüber Gedanken machen, oder manchmal gar keine Gedanken machen. Was man bei dem Wahlverhalten vieler Menschen auch in Europa sieht, dass viele gar nicht wissen, was sie wählen, Hauptsache sie wählen Protest.
    "Türken aus Deutschland kennen die Türkei nur von Urlauben"
    Heckmann: Das heißt, Sie machen sich über das Wahlverhalten der Deutschtürken keine Sorgen?
    Sofuoglu: Ich mache mir nur Sorgen, wenn jetzt Deutschtürken allgemein denunziert werden, als Antidemokraten deklariert werden, und man sie jetzt in der Öffentlichkeit als Ablehnung der Integration deklariert. Da sehe ich einfach Probleme, wenn man die Menschen pauschal als nicht mündige Bürger in Deutschland bezeichnet.
    Heckmann: Aber ist es nicht auch problematisch, sich hier in Deutschland aufzuhalten, hier in Deutschland zu leben, von der Freiheit, der Demokratie des Rechtsstaats zu profitieren, und dann in der Türkei für Erdogan zu stimmen und seine AKP und für einen autoritären Kurs? Ist das nicht ein Widerspruch?
    Sofuoglu: Das ist natürlich ein Widerspruch, dass Menschen in Freiheit leben und für die Menschen in der Türkei Autokratie fordern und auch entsprechend wählen. Das ist einfach ein Widerspruch in sich. Aber genau dieser Widerspruch muss analysiert werden: Warum wählen die Leute AKP? Warum wählen die Leute Erdogan?
    Das hat natürlich sehr viele Ursachen. Erst mal kennen die Türken und die Türkeistämmigen aus Deutschland die Türkei nur von den Urlauben, und wenn sie in Urlaub sind, merken sie eigentlich von dem, was in Deutschland diskutiert wird, sehr wenig. Die gehen an den Strand, die sehen die Autobahnen, die sehen die Krankenhäuser, die sehen die Flughäfen, wo sie immer landen. Die verbringen dann ihren Urlaub und dann kommen sie wieder zurück und dann sagen sie, wie schön ist die Türkei, und dass die Türkei so schön ist, das haben wir dem Erdogan zu verdanken.
    Das Bild, was hier in Deutschland über Erdogan geprägt wird, sehen sie in der Türkei nicht, weil sie sehr wenig auch mit Menschen in Berührung kommen. Sie sind genauso wie die Touristen, wenn sie irgendwo hingehen, dass sie mit den Einheimischen sehr wenig zu tun haben und sich keine Gedanken auch darüber machen.
    Die Strandpromenade und der Yachthafen in Kemer in der Türkei.
    Die Strandpromenade in Kemer - Vom Alltag bekommen viele Deutschtürken in ihrem Urlaub nichts mit. (dpa picture alliance / Marius Becker)
    Heckmann: Aber andererseits kann man ja auch sagen: Herr Sofuoglu, sorry, wenn ich da kurz reingehe.
    Sofuoglu: Gerne!
    Heckmann: Erdogan hat ja seinen Erfolg auch diesem wirtschaftlichen Aufschwung zu verdanken, dem er dem Land ja garantiert hat.
    Sofuoglu: Genau das wollte ich eigentlich sagen, dieser wirtschaftliche Aufschwung.
    "Wirtschaftskrise ist in den Geldbeuteln noch nicht zu spüren"
    Heckmann: Jetzt ist es ja seit einiger Zeit so, dass das Land wirklich in der Krise steckt. Man sieht es, die Inflation ist groß und hoch, auch die Arbeitslosigkeit, und das merkt man doch auch, wenn man in die Türkei fährt, oder?
    Sofuoglu: Das merkt man, aber das merken die Urlauber nicht. Auch wenn die Familienangehörigen immer wieder sich beschweren, sieht man, dass diese Wirtschaftskrise in den Geldbeuteln der Menschen noch nicht zu spüren ist.
    Deswegen hatte Erdogan ja die Wahlen vorgezogen, weil man jetzt prognostiziert, dass diese Wirtschaftskrise in den nächsten Monaten, im nächsten Jahr noch stärker wird. Deswegen wollte er ja so schnell wie möglich diese vorgezogenen Wahlen, damit er die alleinige Macht hat, um diese Situation besser kontrollieren zu können.
    Heckmann: Welche Rolle hat denn die harsche Kritik gespielt, die an Erdogan geübt worden ist von Seiten der europäischen Hauptstädte? Da wurde ja in der Tat sehr, sehr scharfe und harsche Kritik geübt an dem Kurs von Erdogan. Hat das möglicherweise zu einer Verhärtung geführt bei den Deutschtürken?
    Sofuoglu: Was die europäischen Reaktionen auf die Türkei angeht, hat es in den letzten Jahren sehr widersprüchliche gegeben. Man hat auf einer Seite Erdogan kritisiert, aber auf der anderen Seite hat man natürlich mit Erdogan Deals gemacht.
    Allein, wenn ich mir jetzt die deutsch-türkischen Verhältnisse anschaue: erst mal diesen Flüchtlingsdeal und auf der anderen Seite diese ganzen Waffenlieferungen in den Jahren 2016 und 2017. Die Türkei hat die meisten Waffen von Deutschland gekauft. Das ist eine Seite der Medaille.
    Auf der anderen Seite natürlich diese ganze Polarisierung, die wir in Deutschland erleben zwischen Deutschtürken untereinander, aber natürlich auch zwischen Deutschen und Türken. Was dazu natürlich kommt, dass in letzter Zeit - ich habe mir gestern auch noch überlegt, dass die Türken immer wieder mit der Türkei-Politik konfrontiert werden. Neulich waren ja Wahlen in Russland; da ist kein Russe auf der Straße gefragt worden, was er davon hält, dass Putin wiedergewählt worden ist.
    Oder wir hatten jetzt in Italien diese Regierungsbildung von Rechtsradikalen und kein Italiener auf der Straße wurde danach gefragt, was er davon hält. Aber die Türken werden in Deutschland ständig mit der Türkei-Politik konfrontiert, so dass man langsam das Gefühl erweckt, ob man hier lebt oder in der Türkei lebt.
    "Fragen, wo wir die Fehler gemacht haben"
    Heckmann: Ich habe gelesen, dass auch viele junge Wähler hier in Deutschland Erdogan-Anhänger sind. Was würden Sie denn sagen, was kann man eigentlich tun?
    Sofuoglu: Man muss das einfach zur Kenntnis nehmen. Das ist eine Realität, die wir jetzt in Deutschland haben. Die haben Erdogan gewählt. Man muss genau analysieren, warum vor allem junge Leute Erdogan gewählt haben, die eigentlich die Türkei gar nicht kennen, teilweise die türkische Sprache nicht richtig sprechen.
    Warum bejubeln Menschen in Deutschland einen Menschen, der ein Führer ist in einem anderen Land? Da muss die Politik sich selber auch fragen, da müssen wir Migrantenorganisationen uns selber fragen, wo wir die Fehler gemacht haben.
    In Deutschland lebende Türken feiern den Wahlsieg von Recep Tayyip Erdogan mit einem Autokorso auf dem Kudamm.
    In Deutschland lebende Türken feiern den Wahlsieg von Recep Tayyip Erdogan mit einem Autokorso in Berlin. (imago)
    Heckmann: Was sind denn die Fehler?
    Sofuoglu: Die Fehler haben dazu geführt, dass die Menschen sich hier nicht heimisch fühlen. Man muss den Menschen noch mal Deutschland als Heimat anbieten. Es ist wichtig, dass die Menschen das Gefühl haben, sie fühlen sich hier in Sicherheit, sie fühlen sich hier geborgen, sie gehören einfach zu diesem Land. Da ist die Politik gefordert, da sind die Organisationen gefordert, aber da sind natürlich auch die Medien gefordert.
    Heckmann: Wie kann das passieren?
    Sofuoglu: Dass wir uns Gedanken darüber machen über die Einführung der Staatsbürgerschaft, dass die Menschen die deutsche Staatsbürgerschaft schneller bekommen, dass sie hier wahlberechtigt sind, dass sie hier wählen können, dass sie sich hier partizipieren können auf der kommunalen Ebene, auf Landesebene und auf Bundesebene. Das ist erst mal sehr wichtig.
    Je mehr die Menschen die Möglichkeit haben, sich zu partizipieren, mitzuentscheiden, desto weniger werden sie natürlich danach gucken, wo sie sonst wählen können. Wenn ich bedenke, dass sehr viele Türkeistämmige seit 50 Jahren, 60 Jahren in Deutschland nicht wählen können und zum ersten Mal zur Wahlurne gegangen sind, als die Türkei diese Möglichkeit geschaffen hat, endlich mal wählen zu können; deswegen sollte Deutschland diese Menschen als eigene Bürger und Bürgerinnen empfinden und den Menschen diesen Weg zur Mitbestimmung, zur Partizipation öffnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.