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Türkisch-Syrische Grenze
"Diese Menschen rechnen mit gar nichts mehr"

Die Lage in Syrien an der Grenze zur Türkei sei fatal, sagte Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisation Grünhelme, im DLF. Das UNHCR dürfe 38 sogenannten wilden Flüchtlingslagern ohne die Erlaubnis des syrischen Regimes keine Unterstützung anbieten. Die Türkei leiste jedoch gute Arbeit "in Bezug auf die Öffnung für Hilfe".

Rupert Neudeck im Gespräch mit Christoph Heinemann | 27.06.2014
    Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisation "Grünhelme"
    Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisation "Grünhelme" (dpa / picture-alliance / Britta Pedersen)
    In den türkischen Grenzorten gebe es die Möglichkeit, auch mit syrischen Aktivisten über notwendige Hilfen zu sprechen. Das sei vor allem den NGOs zuzuschreiben. Von staatlicher Hilfe sei dort nichts zu sehen, erläuterte Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisation Grünhelme, der erst vor kurzem von der türkisch-syrischen Grenze zurückgekehrt ist.
    Besonders erschreckend seien Berichte der Flüchtlinge über den Zustand der zweitgrößten syrischen Stadt: "Aleppo ist wie Stalingrad", habe ihm ein Syrer gesagt.
    Zur Rolle der radikal-islamischen Isis-Rebellen in Syrien sagte Neudeck, diese Gruppierung sei "die Bewegung, die eben nicht an dem Widerstand gegen das Regime teilnimmt". Bisher seien die Kämpfer der Isis von den Bombardements der syrischen Luftwaffe verschont geblieben. Als "Hauptquartier" der Isis in Syrien bezeichnete er die Stadt Raqqa im Norden des Landes.

    Das Interview in voller Länge:
    Christoph Heinemann: US-Präsident Barack Obama hat beim Kongress um 500 Millionen Dollar militärische Hilfe für, wie es heißt, "sicherheitsüberprüfte Gruppen der syrischen Opposition" gebeten. Nur solche Gruppen sollen Unterstützung bei der Ausbildung ihrer Kämpfer als auch Waffen erhalten. Unterdessen zerstören die Rebellen in Syrien nach Angaben der Vereinten Nationen verstärkt die Infrastruktur in den Städten.
    Das hat nach Angaben der UNO zu erheblichen Schäden geführt, etwa zur Unterbrechung der Wasserversorgung, der Abwasserleitungen und der Elektrizität. Zahlen der Vereinten Nationen: 241.000 Menschen leben noch immer in belagerten Gebieten, nur ein Prozent wurde in den vergangenen Wochen mit dem Nötigsten versorgt, insgesamt benötigen rund elf Millionen Syrer Hilfe von außen. Kein Wunder, dass sich rettet, wer kann.
    Am Telefon ist Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisationen Grünhelme und Cap Anamur, der gerade von der türkisch-syrischen Grenze zurückgekehrt ist. Guten Morgen.
    Rupert Neudeck: Guten Morgen, Herr Heinemann.
    Heinemann: Herr Neudeck, was berichten die Flüchtlinge über die Bedingungen, denen sie entkommen sind?
    Neudeck: Lage der Syrer wird immer verzweifelter
    Neudeck: Die Situation wird für die Flüchtlinge so verzweifelt, dass sie nicht wissen, ob sie aus dem Lande heraus sollen, oder wenigstens an die Grenze ziehen. Wir haben an der Grenze, an der türkisch-syrischen Grenze jetzt eine Zahl von 38 wilden Lagern. Wild meint, die sind nicht unter der Versorgung des UNHCR, des Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen und anderer UNO-Agenturen, weil die abhängig sind von der Erlaubnis des Regimes in Damaskus, diese Versorgung zu machen. Deshalb sitzen die dort an der Grenze in Hotels herum und können nichts tun. Die Flüchtlinge berichten, dass die Luftwaffe von Assad weiter brutalisierende Luftkämpfe und Luftbombardements abhalten.
    In Aleppo sind weiter Fassbomben gefallen. Das ist eine neue Erfindung des syrischen Bürgerkrieges. Fassbomben, das sind Fässer, die mit TNT vollgestopft werden, damit sie noch wirkungsvoller Zerstörungen in einer Riesenstadt wie Aleppo anrichten. Es gibt mittlerweile sogar, wie mir gesagt wurde von Bewohnern – wir haben einen Besuch gehabt aus Aleppo -, Containerbomben. Das ist noch mal größer, die Fassbombe noch mal um etwas quantitativ erweitert. Ein Bewohner von Aleppo, der uns in Reyhanli, der Ortschaft in der Türkei, am Abend besuchte – die Syrer dürfen mit syrischem Pass über die türkische Grenze in die Türkei -, der sagte mir zu meiner größten Überraschung, "Aleppo is like Stalingrad. Do you know, what Stalingrad is?" – Aleppo ist wie Stalingrad. Es ist so furchtbar zerstört und von den zwei bis drei Millionen Menschen dieser zweitgrößten Stadt von Syrien sind wahrscheinlich nur noch an die 300.000, die in Katakomben dort leben. Das ist ein bisschen das Bild.
    Dazu kommt, dass die Versorgungslage natürlich ganz, ganz unsicher geworden ist und wir davon ausgehen müssen, dass in vielen Teilen von Nord- und Mittelsyrien es mittlerweile so was Ähnliches gibt, was wir uns in Deutschland gar nicht mehr vorstellen können, nämlich Hunger.
    Heinemann: Gelangt denn überhaupt noch Hilfe nach Syrien?
    Hilfe der internationalen Staatengemeinschaft ist in Syrien "nicht zu sehen"
    Neudeck: Der einzige positive Aspekt, den ich berichten kann: Die Türkei spielt eine gute Rolle in Bezug auf die Öffnung für Hilfe. In den Grenzorten wie zum Beispiel Dasi Antep, Kilis, aber Reyhanli ganz besonders – das liegt direkt an der Grenze – und Antakia, dort gibt es die Möglichkeit, mit syrischen Aktivisten, die dort herüberkommen können, Hilfe zu besprechen, die dann auch als Aktivisten mit den LKW herübergehen. Ich war dabei, als LKW jetzt losgegangen sind, die an der Grenze umgeladen werden und die in der Tat begleitet von solchen Aktivisten, Menschenrechtsaktivisten bis nach Aleppo, bis nach Idlib, bis nach Kanassia, bis nach Akar kommen können und dort die Hilfe abgeben.
    Das ist aber allein die Tatsache, dass regierungsunabhängige Organisationen dort in Reyhanli und Antakia sitzen, um diese Hilfe zu machen. Von der internationalen Staatengemeinschaft, staatliche Hilfe, ist dort nichts zu sehen.
    Heinemann: Haben Sie Informationen, Herr Neudeck, bekommen können über die Aktivitäten der radikal-islamischen Isis-Rebellen?
    Neudeck: Isis beteiligt sich nicht am Befreiungskampf in Syrien
    Neudeck: Ja. Wir haben mit einem Kommandeur gesprochen, der kam von Rakar. Rakar war oder ist immer noch – keiner weiß das jetzt noch genau – das Hauptquartier der Isis in Nordsyrien, spielte dabei eine ganz merkwürdig schlimme Rolle, weil von den Bombardements der syrischen Luftwaffe, also von Assad, wurde das Hauptquartier, wurden die Quartiere der Isis immer ausgenommen.
    Die FSA, die Freie Syrische Armee, die Rebellentruppe, ist die einzige auf der Welt, die eigentlich gegen die Isis vorgegangen ist, auch im militärischen Sinne, die einzige, die wirklich etwas gegen diesen Terror gemacht hat, dadurch, dass sie sie bekämpft hat. Dieser Kommandeur sprach davon, bei diesen Kämpfen in Rakar ist ihm und seiner Miliz die Munition ausgegangen. Er ist nach Reyhanli gekommen und hat dann mit den Freunden Syriens, von denen er meinte, sie wären die Freunde Syriens, Kontakt aufgenommen über diplomatische Kanäle, die die syrische Opposition, der Syrische Nationalrat ja haben, und hat ganz flehentlich um Munition gebeten. Die wurde ihm aber verweigert. Das hat er uns in einem Ton ziemlicher Empörung erzählt.
    Die Isis ist weiter die Bewegung, die eben nicht an dem Widerstand gegen das Regime teilnimmt, sondern die sich beschränkt und konzentriert auf die Verbrechen, die sie in der Lage ist auszuüben. Das bedeutet auch Entführungen. Wir wissen weiter von über 200 Menschen, die die Besten der Besten in Syrien sind, die entführt sind von der Isis. Wir wissen, dass sie Entführungen machen, dass sie Massaker machen, dass sie eben nicht sich an dem Befreiungskampf der Syrer beteiligen.
    Heinemann: Rechnen die Menschen überhaupt noch mit einer militärischen Lösung?
    "Diese Menschen rechnen mit gar nichts mehr"
    Neudeck: Nein. Diese Menschen haben nur noch den Kopf frei für ihre eigenen Bedürfnisse, für die Bedürfnisse ihrer Kinder. Das Durchbringen ihrer Kinder, das ist überhaupt das Entscheidende. Es ist ja eine Gesellschaft, die man sich ganz anders vorstellen muss als unsere. Es sind mehrheitlich Kinder und Jugendliche, die in den Lagern noch sitzen, und deshalb ist auch so wichtig eine weitere Aktivität, die man von Reyhanli aus machen kann – Gott sei Dank ist die möglich. Wir bauen in drei Lagern jenseits der türkisch-syrischen Grenze Schulen, damit die Kinder wenigstens nicht so viel zeit, nicht Jahre verlieren. Aber die Frage ist ganz klar zu beantworten: Diese Menschen rechnen mit gar nichts mehr. Die internationale Gemeinschaft und die UNO-Menschenrechtscharta, das ist für sie alles Schall und Rauch, das hat keine Bedeutung, denn für sie gilt es ja ganz offenbar nicht.
    Heinemann: Rupert Neudeck von der Hilfsorganisation Grünhelme. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
    Neudeck: Auf Wiederhören.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.