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Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Gehen

Das Gehen ist die elementarste Art, sich fortzubewegen. Elementar ist auch die Sprache in Tomas Espedals Roman. Der norwegische Autor erzählt von einem Mann, der aufbricht, das Leben eines Landstreichers zu führen - und dabei ein Abenteuer des Denkens erlebt.

Von Sieglinde Geisel | 28.08.2012
    Nur 300 Meter am Tag legt ein Mensch in Deutschland heute noch zu Fuß zurück. Was verloren geht, gewinnt an Bedeutung. Seit das Gehen keine Fortbewegungsart mehr ist, dient es als Lebensstil, als Mythos und bisweilen Therapie. Je mehr wir es verlernen, desto stärker wird die Sehnsucht danach. "Gehen" lautet der Titel

    "oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen",

    so der Untertitel des ersten Werks des norwegischen Romanautors Tomas Espedal, das auf Deutsch erschienen ist, eine deutlich autobiographisch gefärbte Mischung aus Tagebuch, Essay und Reisebericht. Der Ich-Erzähler ist Schriftsteller, kein glücklicher, sondern einer, der von seiner Geliebten verlassen wurde und angefangen hat zu trinken. Wieder einmal hat es mit der bürgerlichen Existenz nicht geklappt – nun hofft er auf ein neues Leben, als Gehender.

    "Daraus müsste sich doch ein Beruf machen lassen: Vagabund. Herumtreiber. Landstreicher. Wandersmann. Irgendjemand muss diesen Beruf bewahren."

    Hinter dem Traum von einem "wilden und poetischen Leben" steht die gute alte Männerfantasie vom einsamen Wolf, der durch die Wälder streift, Entbehrungen erträgt, nirgends zu Hause ist, ein Gegenentwurf zu der unerträglich engen häuslichen Gemütlichkeit, in der die Frauen die Männer so gerne einsperren wollen. Der Ich-Erzähler, der meist mit seinem Freund Narve aufbricht, erlebt auf seinen Wanderungen Zusammenbrüche, und bisweilen gerät er an seine körperlichen Grenzen: im Dauerregen, bei Hunger und Kälte. Doch das ist eher selten.

    "Geh in den Wald, werde ein Teil von ihm, leere die Flaschen, fülle deine Sinne, lausche den Vögeln, erblicke die Schatten, rieche die Bäume, werde nichts und verlaufe dich!"

    Das Gehen ist die elementarste Art, sich fortzubewegen, und elementar ist in Espedals Buch auch die Sprache. Wichtigstes Stilmittel ist die Aufzählung: benennen, nicht erklären oder deuten.

    "Ich gehe über Hochmoor und Gras, werde von Fliegen und Mücken verfolgt, sehe Vögel auffliegen, höre das Geräusch fliehender Schneehühner, das Herz, das schlägt, die Beine, die gehen; der Rhythmus des Gehens, jetzt habe ich ihn gefunden. Gehen, ausruhen, essen, denken, sehen."

    Man gibt sich dieser Sprache gerne hin, die sich auf das Wesentliche, Körperhafte beschränkt. Mit ihr rührt Tomas Espedal an unsere Sehnsucht, der Hetze und Entfremdung des modernen Alltags zu entkommen. Er wandert in Wales, in den norwegischen Fjorden und - in Deutschland - nach Todtnauberg, zu Heideggers Hütte. Tomas Espedal weiß natürlich, dass er nicht als Erster über das Gehen nachdenkt. In essayistischen Exkursen lässt er Autoren zu Wort kommen, die ebenfalls die "Kunst eines wilden und poetischen Lebens" erproben und die unser Wandersmann in seinem Rucksack dabei hat.

    D.H. Lawrence:

    "Die große Heimat der Seele ist die offene Straße."

    Oder Kierkegaard:

    "Ich bin zu meinen besten Gedanken gegangen, und ich kenne keinen Gedanken, der so bedrückend wäre, dass man ihn nicht gehend hinter sich lassen könnte."

    Hinter sich lassen will der Ich-Erzähler nicht nur die Spießigkeit dessen, was man Privatleben nennt. Das Gehen schärft auch seinen Blick für die Übel der westlichen Zivilisation:

    "Die Luxusjachten, die Autos, die viel zu großen Häuser, sie alle wachsen, die Reichtümer wachsen, doch die Menschen, die sie bevölkern, werden kleiner, man sieht sie kaum noch, sie verschwinden in ihrem Eigentum."

    Wer sich für das Gehen entscheidet, lässt das Eigentum hinter sich. Er ist nur noch in und mit seinem Körper unterwegs.

    "Man denkt nicht besser, wenn man geht, man denkt anders."

    Gehen also als eine Form der Meditation: Ganz von allein richtet sich die Aufmerksamkeit auf das, was da ist – bis hin zu dem Punkt, wo das Bewusstsein des Wanderers mit der Umwelt verschmilzt:

    "diese Blume, der Wind, die Bäume, als würden die Gedanken umgeformt und zu einem Teil dessen werden, was ihnen begegnet; ein Fluss, ein Berg, ein Weg."

    Obwohl der Text immer wieder auf die Erfahrung des Gehens zurückkommt, findet man keine konzise Reflexion über das Gehen. Denn diese Aussteigerprosa vagabundiert auch selbst zwischen Themen und Schreibweisen, ohne zu einer erkennbaren Form zu finden. Eine längere Passage über Paris etwa liest sich eng und kurzatmig. Der Autor geht die zwölf Kilometer ab, die der Komponist Erik Satie jeden Tag von seiner elenden Vorortskammer ins Café zurücklegt haben soll, doch im Gegensatz zu den Wanderungen in der Natur verwandelt sich das Gehen in der Stadt nicht in eine literarische Erfahrung. Auch die Hinwendung zu Rimbaud, dessen Satz "Ich ist ein anderer" etwas penetrant das ganze Buch durchzieht, gehört zu den missglückten Passagen – man glaubt, einen Lexikonartikel zu lesen, und man ist erleichtert, als der Autor sich am Ende des Buchs von seiner Couch erhebt und noch einmal zu einer Wanderung aufbricht, nach Griechenland diesmal und in die Türkei.

    Einer, der geht, lässt etwas hinter sich zurück – doch kommt er auch irgendwo an? Im Epilog zumindest scheint es, als sei er angekommen: in einem Haus am Meer, jenseits der Stadt. Geduldig beschreibt er seinen Lieblingsweg zu dem kleinen Geschäft unten an der Promenade, in dem man alles kaufen kann, was man benötigt.

    "Im Grunde gibt es gar nicht so viel, was man wirklich benötigt."

    Vielleicht beginnt mit dieser Einsicht tatsächlich ein anderes Leben – ob es auch ein wildes und poetisches sei, bleibt offen.


    Tomas Espedal: Gehen. Oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen.
    Aus dem Norwegischen von Paul Berf.
    Verlag Matthes und Seitz, Berlin 2011. 235 Seiten, 19,90 Preis