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Über die Flüsse

Alles Zufall im Leben, sagt Georges-Arthur Goldschmidt. Hätte er damals, kurz nach dem Krieg, nicht vergessen dem Hemdenverkäufer, der ihn anwerben wollte, im Zug nach Paris seine Adresse zu geben, dann wäre er heute vielleicht ein "emeritierter Hemdenverkäufer". So aber ist er Lehrer, Übersetzer und Autor geworden und pflegt bei all diesen Tätigkeiten ein selbstironisches Unterstatement:

Elke Biesel | 03.12.2001
    Ich bin Sonntagsmaler, wenn sie so wollen. Ich schreibe weil es mir Spaß macht. Ich glaube nicht an die besondere Rolle des Schriftstellers. Schriftsteller sind vom Leben bevorzugte Arschlöcher. Die haben eben ein komisches Leben. Ich habe eben so ein drolliges Leben. Ich kann nix dafür. Ich habe dieses verrückte Leben und musste damit fertig werden und wollte das erzählen und weiter nichts. Bloß nichts ernst nehmen. Nur das Leben der anderen und meines, das nehme ich ernst, aber sonst nix.

    Seit den 80er Jahren hat Goldschmidt sein "verrücktes Leben" in Romanen und Erzählungen verarbeitet. Es ist das Leben eines jüdischen Kindes, das dank der Vorsicht seiner Eltern den Terror der Nazis überlebt hat. 1938, Georges-Arthur Goldschmidt ist gerade zehn, schicken die Eltern ihn und seinen älteren Bruder zu Freunden nach Florenz. Von dort geht es ein Jahr später weiter nach Frankreich. In Chambéry, in einem katholischen Internat in den französischen Alpen, überlebt Goldschmidt die Verfolgung, seine Eltern aber sieht er nie wieder.

    In seinem jüngsten auf Deutsch erschienenen Buch, der Autobiographie "Über die Flüsse", schildert er seine Kindheit in Deutschland. Er setzt sich mit seinem moralisch verklemmten, zum Protestantismus konvertierten Elternhaus aus einander, das wie viele jüdische Familien in jener Zeit deutscher sein wollte als die Deutschen. Er beschreibt seine Flucht, die immer wieder kehrende Angst und das Heimweh. Er erzählt von den Menschen, die ihr Leben riskiert haben, um ihn, den "unmöglichen Jungen", wie er heute sagt, der noch mit 15 jeden Abend ins Bett pinkelt, vor den Verfolgern zu retten. "Es ist unbequem, nur durch Zufall überlebt zu haben", sagt Goldschmidt. "Es ist sehr schwer, aber ich trage das mit Ironie." Am 9. Dezember erhält er für sein Werk den Nelly-Sachs-Preis. - Was bedeutet diese Ehrung für ihn?

    Ich schäme mich immer ein bisschen. Ich habe immer den Eindruck, dass das jemand anderes auch genau so gut hätte bekommen können. Allerdings den Nelly-Sachs-Preis vielleicht nicht. Wir sind eigentlich nur wenige, die ihn noch bekommen können in meinem Alter. Ich habe immer die Befürchtung, das wäre eine Art Wiedergutmachung und dabei ist es wahrscheinlich gar keine. Es ist immer eine ganz große Ehre. Stellen Sie sich mal vor, dieses Land, das mich als kleiner Junge zum Tode verurteilt hat, mich am liebsten, wenn es mich erwischt hätte, zu einem Stück Seife gemacht hätte, oder zu einem Lampenschirm, oder ein kleines Wölkchen, dass das selbe Land mir Preise verleiht. Ich würde sagen, das wundert mich und ich finde es schön. Es zeigt mir dass nichts in der Geschichte endgültig ist und dass Deutschland ein total anderes Land geworden ist. Es ist vielleicht ein wunderbares Zeichen, dass die Menschen doch irgendwie überleben werden.

    Die jüngste Weltgeschichte, der Anschlag auf das World Trade Center am 11. September, erinnert Goldschmidt allerdings an das andere Deutschland, an den Fanatismus des Dritten Reiches:

    Diese Aktualität ist wie zur Hitler Zeit wieder der Wahnsinn.Als ich dieses zweite Flugzeug dann hinein fahren sah, das war für mich genau so fürchterlich wie die Ankunft der Deutschen in Frankreich. Das war für mich das Ende der Welt. Es gibt für so was keine Rechtfertigung und keine Erklärung. Und jedes Mal wenn sie versuchen, ein derartiges Verbrechen zu erklären, dann sind sie schon fast Mittäter. Das ist ein reines Verbrechen, weiter ist nichts dazu zu sagen.

    Der "Wahnsinn", das ist für Goldschmidt der "ungeheure Irrationalismus", den er hinter dem Terror verborgen sieht. Goldschmidt ist ein bekennender "citoyen", für den das unabhängige Denken des Einzelnen und die zivile Freiheit zu den höchsten menschlichen Gütern gehören. Der Gegenpol zum Fanatismus ist für ihn die Vernunft im aufklärerischen Sinn:

    Das Große an der Vernunft ist, dass sie nicht weiß, wie sie mit dem Wahnsinn umgehen soll. Und das ist auch das Dramatische daran. Für alle Totalitarismen ist die Freiheit des Menschen die größte Gefahr.

    Gelernt hat Goldschmidt dieses Denken bei den französischen Aufklärern des 17. und 18. Jahrhunderts, die zu seiner Lektüre im Internat in Chambéry gehörten. An den "großen Frechen", wie Voltaire, Moliere und Larochefoucault faszinierte ihn der rebellische, kritische Geist:

    Da habe ich die Aufklärung gelernt, in einem reaktionären katholischen Internat, das ist das wunderbare Paradox. In Deutschland hat es genau so viel Frechheit gegeben, aber das ist alles verboten und unterdrückt.

    Neben der erbaulichen Lektüre gab es im Internat aber auch die Demütigung: Schläge mit Birkenzweigen auf die nackte Haut. Eine Aufgabe, der sich die alten Jungfern, die häufig den Instituten vorstanden, offenbar mit Hingabe widmeten. Goldschmidt beschreibt diese Strafen als Pein und Lust zugleich:

    Das hat natürlich in meiner Generation, wenn auch viele Leute gar nicht davon reden, eine ungeheure Rolle gesielt, gerade in dieser Zweideutigkeit. Das Strafe Wollust hervorbringen kann, ist doch die größte Verneinung der Strafe überhaupt. Das haben die Jesuiten so wunderbar verstanden, diese Perversion. Ich glaube an die großen Perversen, Blaise Pascal, Nietzsche, Heinrich Heine. Das sind die großen Perversen, die haben der Menschheit etwas zu bringen, weil sie immer im Umkippen leben.

    In mehreren seiner Werke schildert Goldschmidt das Klima unterdrückter Sexualität, eine Pubertät voller Verwirrung, Unwissenheit und Ahnungen. Zu der Scham über die von den Erwachsenen verteufelte Körperlichkeit kommt bei dem jungen Georges-Arthur jedoch noch ein anderes Schuldgefühl hinzu: "Ich schämte mich meines Überlebens", heißt es in seiner Autobiographie. Goldschmidt:

    Erst als 15jähriger erfuhr ich, dass ich Jude war, ich war lutheranisch getauft, ich war ein frommes Kind. Das ist schon die Absurdität der Sache. Ich fühle mich natürlich total als Jude. Jemand der von Anfang an zum Tode verurteilt wird, nur weil er geboren ist, der ist schon einer. Und das ändert das Leben. Ich bin ein Lebendiger auf Widerruf, wie Hans Meyer sagen würde.

    Als Goldschmidt nach Kriegsende zum ersten Mal wieder nach Deutschland reist, trifft er auf Menschen, die sich selbst nur als Opfer sehen. Das Nachkriegsdeutschland erlebt er als seicht und zufrieden mit sich selbst, allein darauf bedacht, nicht mehr an die Vergangenheit zu denken. In den folgenden Jahrzehnten reist er, der inzwischen französischer Staatsbürger geworden ist, immer wieder nach Deutschland und erlebt die, wie er sagt, "verblüffende Wandlung" des Landes.

    Wenn er heute über die deutsch-französische Grenze fährt, dann fallen ihm immer noch zuerst die Differenzen zwischen den beiden Nachbarstaaten auf:

    Die beiden Länder sind sich so unähnlich. Wie die Bäume stehen zum Beispiel. Durch das Licht. Ich kann das nicht formulieren....aber es sind zwei andere Welten - zum Glück.

    Leichter fällt es dem Handtke- Nietzsche- und Kafka-Übersetzer Goldschmidt die Charakteristika der beiden Sprachen zu beschreiben. Mit ihren unterschiedlichen Qualitäten hat er sich in seinem Buch "Als Freud das Meer sah" beschäftigt und bald soll ein zweiter Band von Sprach-Reflektionen folgen:

    Das Deutsche beschreibt den Weg und das Französische überspringt ihn. Das heißt, das Französische interessiert sich nicht für das, was dazwischen liegt, sondern nur für die Sache an sich. Es gibt so einen Sprachkäfig im Deutschen. Es ist alles so ungeheuer präzise.

    Das Französische hingegen gebe mehr Freiheit, mehr Distanz, sagt Goldschmidt. Das mag ein Grund dafür sein, warum er künftig nur noch in dieser Sprache schreiben möchte. Allerdings würde er sich neben aller geliebten Großvater-Arbeit und den laufenden Buchprojekten gerne noch einmal selber übersetzen:

    Mein Deutsch, wissen Sie welches Deutsch das ist? Das ist das Deutsch von Eichendorff, das ist der Größte. Wenn Deutsche heute so schreiben würden wie Eichendorff wäre die Welt gerettet.