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Über die Liebe und die Lüge

Mit Peer Gynt hat sich Regisseur Nunes einen Klassiker ausgesucht, der viele Möglichkeiten der Ausdeutung und Abwandlung, Modernisierung oder Aktualisierung bietet, so reich ist das Stück um den Bauerssohn an verschiedenen märchenhaften Episoden - eine Art Weihnachtsmärchen für Erwachsene.

Von Cornelie Ueding | 17.12.2010
    Und plötzlich ganz großes Kino. Irgendwann wird ihm alles zu viel und Peer Gynt stürmt splitternackt und schwer bestiefelt gefolgt von einer hinterher sprintenden Kamera von der Bühne; durchs Theater, in die Frankfurter City. Kneipen, Passanten, Bankenhochhäuser - kein Ort, der vor seinen Sprach-Räuschen und Gefühlsdelirien auf der Suche nach sich selbst verschont bliebe. Huckepack auf einem Banker, irrer Paarlauf - immer noch splitternackt - mit einer Muslima, rauf in den 30. Stock und vor Begeisterung übers Geländer gehechtet - im freien Flug als makabrer, selig lächelnder falling man ohne Aufschlag, ohne Ende.

    Die Zuschauer, die den wilden Ausbruch einer Theaterfigur aus dem Gehäuse der Kunst-Welt animiert auf der Großleinwand verfolgen, genießen den Exodus des Theaters, dieses Sich-aus-der-engen-Wirklichkeit-Herauskatapultuieren. Denn dieser Versuch stülpt die ganze Wahrnehmung eines Menschen um - und all derer, die diesem Peer beim Peer-Suchen zusehen. Freier Fall ohne Aufschlag? Der eigentliche 'Aufschlag', die große Desillusion, erfolgt, als Peer nach dem langen virtuellen Ausflug in die Außenwelt wieder real die Bühne betritt und von seinem Partner, dem trollwütigen Teufel, endgültig als Feigling - und nicht als Phantast - enttarnt wird.

    Fantast oder Lügner? Freiheitsheld oder Verantwortungsflüchtling? Darum geht's von Beginn an, wenn die hexen-hakennasige Mutter ihm bittere Vorwürfe macht und Nils Kahnwald als Peer verlegen schelmisch wie ein großer kleiner Junge in altmodische Unterwäsche geknöpft daneben steht. Antú Romero Nunes Frankfurter Peer-Gynt-Inszenierung beginnt wie ein kindliches Märchenspiel, in dem verschmitzt gekichert wird. Peer fabuliert sich in Rage und serviert in krüppeligen Versen knüppeldicke Lügen. Und Hexe, Gretel, pardon: Braut und Teufel, ob in buntem Frack oder weißem Hemdchen, springen wie Kai aus der Kiste und werden auch in großen Kisten wieder abgeschoben. Eine Art Weihnachtsmärchen für Erwachsene in schönen Bildern, das die Abgründe und Abgründigkeiten des Fantasielügners und Egomanen Peer Gynt ausspart und an deren Stelle üppig wuchernde Bildfantasien setzt.

    Im Wald ist Peer von Mikrofonen umstellt. Alle Männer sind in einer von Michael Goldberg gespielten Figur gebündelt; und Henrike Johanna Jörissen spielt alle Frauenrollen. Schon kann Peer die Mutter nach ihrem Tod in Gestalt von Solveig hoch oben auf eine Kiste setzen. So ist sie ihm am liebsten. Als Wartende. Still gestellt. Ein gut ausgeleuchtetes Bild. Und in der verkehrten Welt der Trolle hat er, Peer, ins weiße Hochzeitskleid gesteckt, die Wehen, und des Trollkönigs Töchterlein, hoffnungsvoll grün gekleidet, empfängt das merkwürdige Bündel Kind, bei dessen Anblick Peer Reißaus nimmt.

    Die Aufführung lebt von einer ironischen, artistischen Entzauberung. Nunes schafft eine paradoxe Spannung zwischen der konstruierten Bühnen-Kunst-Welt, die jedoch 'echt' aus Fleisch und Blut und Haut ist, und der wieder erkennbaren, aber medial verfremdeten, desillusionierten realen Außenwelt, die als 'echter' Fake eingespielt wird. Überraschende, blendende Ideen des sich Durchdringens oder sich wechselweise Ironisierens dieser Wirklichkeiten stehen dem als Regiehoffnung gefeierten Regisseur in großer Zahl und Qualität zur Verfügung.

    Freilich dreht und wendet er seine Einfälle, ohne dass die Figuren seiner atemlosen Laut-Leise-Dramaturgie sprachlich und vor allem emotional immer zu folgen vermöchten. Im Gegenteil: sie bleiben von Beginn an die gleichen. Bei allen Gefühlsjongleuren bleibt es bei Gesten der Emotionalität. Man hat nicht den Eindruck, hier zerfiele einer in Stücke und schrie seine Selbstzweifel in die Welt. Eher im Gegenteil. Die Zwiebelfrage nach Schale und Kern, nach Oberfläche und Substanz bringt im Cyber-Space Welt-Theater niemanden mehr aus der Fassung, von Fallhöhe ist nur noch die Rede. Dieser Peer behauptet, erstrampelt und erbrüllt sich eine Gefährdetheit, die er als routiniertes und virtuoses Kind des Medienzeitalters de facto längst halbironisch bespielt.