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Über die Logik der Weltherrschaft

Der Titel von Herfried Münklers neuem Buch geht ins Grundsätzliche. Monumental, in Großbuchstaben gesetzt, steht ein wenig einsam das Wort "Imperien" auf dem Buchcover. Im Plural zwar, aber doch singulär. Der Untertitel "Die Logik der Weltherrschaft" macht deutlich, dass man sich von diesem Plural nicht täuschen lassen darf. Zwar analysiert Münkler auf den folgenden gut dreihundert Seiten eine Reihe von historischen Imperien, vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, wie der Untertitel weiter erläutert. Aber im Gegensatz zum Plural der Imperien steht die Logik der Weltherrschaft im Singular.

Von Leander Scholz | 06.11.2005
    Schon der Titel deutet also an, dass es Münkler nicht wie so vielen politischen Sachbüchern zu diesem Thema um die historische Entstehung und den Zerfall von Weltreichen geht. Vielmehr interessiert ihn die Frage, ob den unterschiedlichen Reichsvorstellungen, die man in der Geschichte finden kann, eine gemeinsame Logik zugrunde liegt.

    Eine Logik der Weltherrschaft also, die zwar je nach der geschichtlichen Situation variieren kann, sich in ihren Grundzügen jedoch treu bleibt, und zwar vom Alten Rom bis in unsere politische Gegenwart hinein. Dass der etwas altmodische Untertitel auf eine gelehrte Tradition zurückgreift, bei der Geschichte letztlich immer abendländische Geschichte bedeutet, darf man deshalb als programmatisch ansehen. Denn zumindest dem europäischen Publikum sind solche Untertitel sehr vertraut. Sie suggerieren eine kontinuierliche Geschichte Europas, mittels der sich die Probleme der Gegenwart in der Antike spiegeln lassen. Und so wird dem Leser des Vorworts auch schnell deutlich, dass sich die singuläre Logik der Weltherrschaft letztlich dem singulären Römischen Imperium verdankt, das seit seinem Zerfall eine derart starke Faszination auf die europäische Politik ausgeübt hat, dass beinahe jeder europäische Nationalstaat versucht hat, sich als Nachfolger eben dieses Imperiums zu begreifen.

    Die Frage, wer der legitime Erbe des Römischen Reichs sei, hat die Politik Europas schließlich nicht grundlos über Jahrhunderte hinweg bestimmt. Erst mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde diese Frage schlichtweg obsolet. Um genau diese Frage geht es nun aber Herfried Münkler, wenn er der Meinung ist, dass Europa in Zukunft wieder lernen müsse, in imperialen Kategorien zu denken:

    "Das notorische Unverständnis vieler Europäer gegenüber der religiösen Rhetorik der amerikanischen Politik zeugt von einem Unverständnis vieler Europäer gegenüber der imperialen Mission der USA. Diese Rhetorik lässt sich weder auf strategisches Kalkül beim Stimmensammeln in einer stark christlich geprägten Wählerschaft noch auf pure Irrationalität reduzieren, wie in europäischen Kommentaren häufig behauptet wird. Hier geht es um den Kern des politischen Selbstverständnisses der USA ..."

    In der europäischen Nachkriegszeit sieht Münkler nur ein mehr oder weniger friedliches Intermezzo, das mit dem Datum 1989 zu Ende gegangen ist. Der Zerfall der Sowjetunion hat ordnungspolitisch gesehen mehr Probleme aufgeworfen als gelöst. Die Globalisierung ökonomischer Prozesse höhlt zudem Regionen mit instabilen, staatlichen Strukturen zunehmend aus, so dass die Zahl der Bürgerkriege und gewalttätigen Auseinandersetzungen um Ressourcen weltweit zugenommen hat. Kurzum, seit dem Ende der Blocksituation herrscht ein Mangel an weltpolitischer Ordnung, der die USA als globale Ordnungsmacht geradezu auf den Plan gerufen hat.

    In imperialen Kategorien zu denken, heißt daher für Europa zunächst einmal, die USA als das einzige gegenwärtige Imperium anzuerkennen, das diesen Mangel an globaler Ordnung beseitigen kann. Unanhängig davon, ob man das nun gut findet oder nicht, so argumentiert Münkler weiter, wird Europa seinen Platz in der Weltgemeinschaft nur dann einnehmen können, wenn es sich auf eine Weise in die amerikanische Mission einfügt, dass es dabei zugleich seine Selbständigkeit behaupten kann. Das mag sich paradox anhören, bedeutet aber konkret, dass Europa erst als Ordnungsmacht auftreten muss, um gewissermaßen ein Mitspracherecht an der globalen Ordnung zu erwerben. Und um das zu tun, müssen die europäischen Politiker aufhören, in nationalstaatlichen Kategorien zu denken. Sie müssen, kurz gesagt, Herfried Münklers Buch lesen und verstehen, was ein Imperium von einem Nationalstaat unterscheidet:

    "Imperien sind mehr als große Staaten; sie bewegen sich in einer ihnen eigenen Welt. Staaten sind in eine Ordnung eingebunden, die sie gemeinsam mit anderen Staaten geschaffen haben und über die sie daher nicht allein verfügen. Imperien dagegen verstehen sich als Schöpfer und Garanten einer Ordnung, die letztlich von ihnen abhängt und die sie gegen den Einbruch des Chaos, der für sie eine stete Bedrohung darstellt, verteidigen müssen ..."

    Es lohnt sich, etwas länger bei dieser Definition zu verweilen. Ein Imperium basiert darauf, wie Münkler sagt, dass es sich selbst nicht bloß als ein Akteur innerhalb eines Gefüges von Akteuren versteht, sondern sich als Schöpfer einer eigenständigen Welt begreift. Die Grenzen des Imperiums fallen deshalb mit den Grenzen der Welt zusammen. Außerhalb von diesen Grenzen gibt es nur Chaos oder Barbaren. Das unterscheidet Imperien in der Tat deutlich von Staaten. Außerhalb von Staaten gibt es andere Staaten. Und das heißt, ein Staat definiert sich über den Unterschied zwischen Außen- und Innenpolitik.

    Für einen staatlichen Akteur ist es nicht entscheidend, die Welt in ihrer Gesamtheit zu verstehen. Entscheidend ist vielmehr, die anderen staatlichen Akteure zu kennen. Man muss sozusagen wissen, was der Nachbar denkt und was er will. Während für einen imperialen Akteur jede Politik notwendig zu einer Weltinnenpolitik wird. Ein Imperium kann alles angehen, was innerhalb seiner Grenzen und damit innerhalb der Welt geschieht. Ein Imperium braucht daher nicht bloß eine Mission, wie Münkler selbst mehrfach betont, sondern auch eine Quelle, aus der es diese Mission schöpfen kann. Ein Imperium braucht, um es etwas verkürzt zu sagen, einen Mythos, auf den es die Ewigkeit seiner Ordnung begründen kann. Denn im Unterschied zu Staaten verstehen sich Imperien als ewig, auch wenn es einige von äußerst kurzer Dauer gegeben hat:

    "Alle Imperien mit längerem Bestand haben sich als Zweck und Rechtfertigung ihrer Existenz eine weltgeschichtliche Aufgabe gewählt, eine Mission, die kosmologische oder heilsgeschichtliche Bedeutung für das Imperium reklamierte. Hegemonialmächte brauchen keine Mission, Imperien hingegen kommen nicht ohne aus ..."

    Fragt man sich nun, worin genau die Mission des amerikanischen Imperiums bestehen soll, bleibt Münklers Antwort merkwürdig diffus. Zwar wird dem Leser immer wieder versichert, die Mission bestehe in der Erzeugung einer globalen Ordnung, aber was das konkret bedeutet, wird nirgendwo zur Sprache gebracht. Allerdings ist das kein individuelles Unvermögen des Autors, sondern liegt in der Sache selbst begründet. Wie Münkler ausführt, ist eine universale Ordnung letztlich auf eine Kosmologie oder auf eine Heilsgeschichte angewiesen. Insofern darf man bezweifeln, dass es überhaupt jemals ein modernes Imperium gegeben hat. Anders ausgedrückt, alle Nationalstaaten, die versucht haben, sich als ein Imperium zu begreifen und entsprechend zu handeln, sind in letzter Instanz daran gescheitert, dass sie sich nicht mehr auf eine kosmologische oder theologische Ordnung berufen konnten, die selbstverständlich weltweite Gültigkeit besitzen muss.

    Unter den Bedingungen einer Globalisierung ist ein solcher Anspruch nahezu unmöglich geworden. Moderne Imperialismustheorien haben deshalb stets nur von imperialistischen oder hegemonialen Staaten gesprochen und nicht von Imperien. Denn eine imperiale Ordnung muss immer auf eine politisch-theologische Ordnung verweisen können. Aus eben diesem Grund kann Münkler als Rechtfertigung für ein amerikanisches Imperium lediglich die imperiale Machtsteigerung selbst angeben, deren einziger Zweck darin besteht, den störungsfreien Fluss der globalen Ströme zu garantieren. Aber das bedeutet, dass das amerikanische Imperium keineswegs als ein Selbstzweck verstanden werden kann, als ein Schöpfer einer eigenständigen Welt, sondern vielmehr eine Funktion eben jener globalen Ströme darstellt. Das erklärt auch, warum die amerikanische Außenpolitik im wesentlichen eine Interventionspolitik ist, der es nicht darum geht, eine homogene, globale, imperiale Ordnung zu installieren, sondern vielmehr Störungen in einem weltweiten Netz von Beziehungen zu eliminieren:

    "Bei Licht besehen hat das amerikanische Imperium nur noch virtuelle Grenzen, die durch die Waffentechnologie möglicher Gegenakteure gezogen werden: durch deren Verfügung über Nuklearwaffen und entsprechende Trägersysteme. Ansonsten ist das US-Imperium aufgrund seiner weithin unbeschränkten Herrschaft über den Luftraum tendenziell grenzenlos ..."

    Diese Grenzenlosigkeit des US-Imperiums, die Münkler hier beschreibt, scheint der zu Beginn seines Buches gegebenen Definition eines Imperiums zu widersprechen, insofern sich dieses über einen einheitlichen administrativen Raum konstituiert. Von daher muss man die Frage stellen, ob es in einem solchen Fall überhaupt sinnvoll ist, von einem Imperium zu sprechen, zumindest wenn man damit wie Münkler die Herrschaftslogik vergangener Großreiche meint. Dass Münkler dies trotzdem tut, hat sowohl methodologische als auch strategische Gründe, die sich am einfachsten erläutern lassen, wenn man sein Buch auf dasjenige Buch bezieht, dem es vom Titel bis in die Argumentationslogik hinein antwortet. Gemeint ist hier das Buch Empire. Die neue Weltordnung, dessen Erscheinen vor einigen Jahren für Aufsehen sorgte. Die beiden Autoren Michael Hardt und Antonio Negri haben dort die These vertreten, dass seit dem Ende der Blocksituation eine vollkommen neue Gestalt der globalen Souveränität entstanden ist. Diese globale Souveränität zeichnet sich dadurch aus, dass sie keinen festen Wohnsitz mehr hat und sich dementsprechend auch nicht mehr über einen Raumbezug konstituiert.

    Mit dem Begriff Empire meinen Hardt/Negri allerdings weder nur die USA, noch die so genannte westliche Welt, noch überhaupt ausschließlich staatliche Akteure. Vielmehr bezeichnen die beiden Autoren damit eine dynamische Koalition von überstaatlichen Interventionsmächten, die sich ad hoc konstituiert und von der Weltgemeinschaft im Bedarfsfall ins Leben gerufen wird. Wie bei Münkler löst also auch das Empire solche ordnungspolitischen Probleme, die auf der Ebene einer internationalen Ordnung nicht gelöst werden können. In beiden Fällen geht es um eine überstaatliche Ordnungsmacht, die den instabilen Prozess der Globalisierung stabilisieren soll. Allein anhand der unterschiedlichen Bezeichnungen – das lateinische Imperium bei Münkler, das englische Empire bei Hardt/Negri – könnte man die Unterschiede der beiden Analysen entwickeln. Während für Hardt/Negri das globale Empire eher in der Nachfolge des britischen Empires steht, also in der Nachfolge eines Seereichs, steht das amerikanische Imperium für Münkler in der Tradition des Römischen Reichs. Der Unterschied zwischen beiden Annahmen betrifft nicht nur die Frage nach den historischen Vorläufern, sondern die Unterscheidung zwischen Seemächten und Landmächten, wie sie Carl Schmitt entwickelt hat. Um es wiederum etwas verknappt zu sagen, spiegelt sich in der Frage, ob es sich nun um ein Empire oder ein Imperium handelt, die Frage wider, ob die ökonomische oder die militärische Potenz das ausschlaggebende Merkmal der amerikanischen Machtfülle ist. Münkler jedenfalls plädiert für das zweite. Und das nicht unbedingt aus analytischen Gründern, sondern eher aus strategischen. Denn wenn Münklers Prognose zutreffen soll, dass sich Europa nur dann ein Mitspracherecht in der globalen Ordnung verschaffen kann, wenn es dazu in der Lage ist, als eigenständige Ordnungsmacht aufzutreten, dann muss es sich vor allem als eine militärische Macht sowohl mit als auch in Konkurrenz zu den USA beweisen. Europa müsste folglich bereit sein, über seine sozioökonomischen Einheit hinaus eine militärische Einheit auszubilden.

    Interessanter Weise steht bei beiden weltpolitischen Analysen, sowohl bei Hardt/Negri als auch bei Münkler, ein Autor im Hintergrund, der theoriegeschichtlich in besonderer Weise mit der Frage nach der Macht verbunden wird: nämlich Machiavelli. Sicherlich ist es kein Zufall, dass beide Analysen in einer Zeit auf diesen Autor zurückgreifen, in der Europa gezwungen ist, sich über seine politische Autonomie Gedanken zu machen. Nur dass bei Hardt/Negri die Krise der Gewerkschaften der ausschlaggebende Grund ist, sich mit Machiavelli auseinanderzusetzen. Während es bei Münkler die politische Krise der Europäischen Union ist, die den Hintergrund seiner strategischen Überlegungen abgibt. Während es Machiavelli um den Einigungsprozess der italienischen Nation ging, geht es Münkler um die politische Einheit Europas. Wie schon bei Hardt/Negri zeigen sich allerdings ebenso bei Münkler die Schwächen eines solchen Rückgriffs auf Machiavelli, wenn seine Analyse letztlich auf einen Appell zur imperialen Machtergreifung Europas hinausläuft:

    "Europa muss sich gegenüber den USA als ein Subzentrum des imperialen Raumes behaupten und darauf achten, dass sich zwischen den USA und ihm kein Zentrum-Peripherie-Gefälle herausbildet. Auf der anderen Seite müssen die Europäer sich aber auch um ihre instabile Peripherie im Osten und Südosten kümmern ... Europas Zukunft wird darum ohne Anleihen beim Ordnungsmodell der Imperien nicht auskommen."

    Mit solchen Sätzen empfiehlt sich Münkler als ein europäischer Politikberater, der jedoch den Spielraum der politischen Akteure möglicher Weise etwas überschätzt. Durchweg spricht Münkler in seinem Buch von imperialen Akteuren, ohne auszuführen, wer oder was darunter zu verstehen ist. Als würde Politik heute noch genauso wie zu Zeiten Machiavellis allein von so genannten Entscheidungsträgern gemacht. Als säßen in Brüssel oder in einer der europäischen Hauptstädte politische Fürsten, die man noch genau so adressieren kann, wie es Machiavelli konnte, das heißt, noch vor der Entstehung moderner Bevölkerungsstaaten. An diesem Problem könnte man die Frage aufwerfen, ob sich die Methodologie und die Machttheorie Machiavellis überhaupt eignet, um die zahlreichen Faktoren der ökonomischen und politischen Globalisierung in den Blick zu bekommen. Aber auf methodologische Probleme scheint es dem Autor nicht in erster Linie anzukommen. Vielmehr ist Münkler der Meinung, dass sich das europäische Denken allzu lange von Machtfragen ferngehalten hat. Aus diesem Grund spielt Machiavelli noch auf einer ganzen anderen Ebene eine Rolle, und zwar auf der Ebene der Rhetorik. Bis in den Gestus eines kalten und einsamen Blicks hinein ahmt Münkler den Stil des Renaissance-Denkers nach. Auch in diesem Punkt darf man Münklers Studie eher als ein Handbuch für kommende EU-Politiker verstehen, die dazu angeleitet werden sollen, wenigstens ein bisschen imperial zu denken.

    So sehr scheint Münkler von der imperialen Macht fasziniert zu sein und sich selbst in einen imperialen Akteur hineinversetzen zu wollen, dass darüber die Frage verloren geht, ob es nicht vielleicht doch mehr als eine Logik der Weltherrschaft gibt. Denn möglicher Weise liegt der Erfolg der Europäischen Union gerade darin begründet, dass sie eben nicht als ein Imperium auftritt und sich auch nicht als ein Subzentrum der amerikanischen Supermacht versteht. Wie so viele intellektuelle Rufer, denen es um das Erwachen Europas geht, übersieht auch Münkler, dass die Europäische Union keineswegs machtlos ist, sondern offensichtlich einen derart großen Einfluss ausübt, dass sie sich in einem kontinuierlichen Erweiterungsprozess befindet. Kein Imperium der Vergangenheit hat es geschafft, seine Grenzen ohne größere Konflikte zu erweitern. Manchen Intellektuellen scheint dabei die fehlende europäische Mission ein Manko zu sein, eine Art europäische Erschlaffung, der sie sich vehement entgegenstellen wollen. Dass diese fehlende Mission aber auch ein Hinweis darauf sein könnte, dass wir es bei der Europäischen Union mit einer neuen politischen Gestalt zu tun haben, die nicht mehr mit der imperialen Logik zu fassen ist, darauf geht Münkler nicht ein. Besonders dünn wird daher seine Argumentation, wenn er auf das Verhältnis von Demokratie und Imperium zu sprechen kommt und zugeben muss, dass nichtdemokratische Imperien weit bessere Überlebenschancen haben. Dass die imperiale Logik genau aus diesem Grund für uns eine vergangene Logik ist, wäre im Anschluss an Münklers Buch über die Logik der Weltherrschaft zu diskutieren. Ein Buch, das man trotz aller Einwände mit großem Gewinn lesen kann. Eröffnet es doch endlich die Debatte darüber, was diese Europäische Union eigentlich für ein politisches Gebilde darstellt.