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Über die menschliche Dummheit

Seine letzten zehn Lebensjahre und drei letzten Werke widmete Gustave Flaubert der Erforschung der menschlichen Dummheit. Ihn interessierten vor allem die Plattheit und Phrasenhaftigkeit des täglichen Sprachgebrauchs, der unreflektierte Glaube an falsche Autoritäten, wie Herkommen, Wissenschaft und Religion, sowie die verborgenen und unaufrichtigen Motive sprachlichen Handelns.

Von Gernot Krämer | 03.08.2005
    Alle drei Werke, die zu diesem manchmal so genannten Dummheitszyklus gehören, waren bei Flauberts plötzlichem Tod am 8. Mai 1880 noch unvollendet. Allerdings in unterschiedlichem Maße unvollendet. Am weitesten war der herrliche und hochkomische Roman Bouvard und Pécuchet gediehen, dem nur der - vielleicht entbehrliche - Schluss fehlte. Die beiden anderen Projekte waren eine unter dem Namen "Sottisier" bekannt gewordene Anthologie sprachlicher Fehlleistungen und Entgleisungen sowie der berühmte Dictionnaire des idées reçues, eine alphabetisch geordnete Sammlung von Gemeinplätzen, die man - so Flaubert selbst in einem Brief - "in Gesellschaft sagen muss, um als liebenswürdiger und angenehmer Mensch zu gelten".

    Flauberts Ansatz bei diesen Projekten lässt sich mit modernen Worten am ehesten als ein stil- und ideologiekritischer beschreiben. Indem er scheinbar affirmativ die dümmsten und unbehauensten Phrasen aus dem Repertoire seiner Zeit aufliest und im neuen Kontext eines Wörterbuchs versammelt, entlarvt er sie. Aber auf eine recht zweideutige Weise. Sein Dictionnaire ist, um noch einmal Flaubert selbst zu zitieren, "so eingerichtet, dass der Leser nicht weiß, ob er verarscht wird oder nicht."

    Ein paar Beispiele. Unter dem Stichwort "Mandoline" liest man: "Unerlässlich zur Verführung von Spanierinnen." Der Eintrag zum Thema "Verkauf" lautet: "Kaufen und Verkaufen, Sinn des Lebens." Und beim Stichwort "Künstler" wird der Leser - wie bei den Dos und Don'ts eines Benimmbuches - zum Gebrauch schichtspezifischer Gemeinplätze ausdrücklich angeleitet, wenn es heißt: "Über alles lachen, was sie sagen. Allesamt Schnurrpfeifer. Ihre Uneigennützigkeit rühmen. Verdienen ungeheure Summen, werfen sie aber schnurstracks wieder zum Fenster hinaus. Was die tun, kann man nicht als ‚Arbeit' bezeichnen."

    Jeder kennt diese Art Worthülsen und Gemeinplätze, und man merkt recht schnell, dass viele von ihnen noch heute im Umlauf sind. Die von Flaubert erhoffte "Aktualität" hat sich also nicht verflüchtigt. Andere Stellen freilich sind erklärungsbedürftig geworden. Hier liegt die Stärke der im Verlag Eichborn Berlin erschienenen Neuübersetzung von Hans-Horst Henschen mit dem Titel Wörterbuch der gemeinen Phrasen. Im Unterschied zu früheren Ausgaben enthält sie nämlich einen ausführlichen Kommentar.

    Was zum Beispiel sollte man ohne Kommentar mit dem folgenden Eintrag anfangen: "Verschmelzung (der Linien): Immer darauf hoffen"? Hier weist eine Anmerkung darauf hin, dass die Verschmelzung der beiden königlichen Linien der Bourbonen und des Hauses Orléans gemeint ist, von der zu Flauberts Zeit in royalistischen Kreisen viel die Rede war.

    Hans-Horst Henschen ist ein Kenner und, wenn man so sagen kann, Liebhaber der Materie. Für den Eichborn Verlag hat er bereits die anderen beiden Teile des Dummheits-Zyklus übersetzt und akribisch kommentiert: Bouvard und Pécuchet und die Universalenzyklopädie der menschlichen Dummheit, wie der "Sottisier" auf deutsch nun heißt. Und vor zehn Jahren hat Henschen, ebenfalls bei Eichborn, Léon Bloys ähnlich konzipierte Sammlung Auslegung der Gemeinplätze herausgegeben.

    Henschens Detailbesessenheit bringt das Wörterbuch der gemeinen Phrasen in die Nähe einer historisch-kritischen Ausgabe. Fast die Hälfte des Umfangs entfällt auf den Kommentar. Den rund 1000 Einträgen stehen knapp 300 Anmerkungen gegenüber, ergänzt durch editorische Hinweise und ein Nachwort. Diesem Nachwort fehlt es - und das wäre der einzige Kritikpunkt an dem neuen Band - bei der Überfülle der Details ein wenig an den klaren Linien. Zu vielen Spuren wird hier gleichzeitig gefolgt, und manche Bezüge, die Henschen herstellt, sind hart am Rande der Beliebigkeit. Wer keinen Wert auf eine kommentierte Ausgabe legt, ist mit dem charmanten Vorwort von Julian Barnes in der konkurrierenden Haffmans-Ausgabe besser bedient. Unter allen anderen Gesichtspunkten aber ist die Eichborn-Ausgabe von Flauberts Wörterbuch die bislang zuverlässigste und genaueste und deshalb unbedingt empfehlenswert.

    Apropos "Wörterbuch". Auch dieses Stichwort findet sich im Wörterbuch Flauberts. Der Eintrag ist ein schönes Beispiel für seinen grimmig-selbstironischen, manchmal auch groben Humor und lautet: "Lächerlich - taugt nur für Stümper."

    Gustave Flaubert: Wörterbuch der gemeinen Phrasen. Herausgegeben, übersetzt und annotiert von Hans-Horst Henschen, Eichborn Berlin, 214 Seiten, 16.90 Euro